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Kultur: Einfallspinsel Jostein Gaarder und sein „Geschichtenverkäufer“

Von Peter Köhler Die Literatur ist langweilig geworden. Das Mittelmaß regiert.

Von Peter Köhler

Die Literatur ist langweilig geworden. Das Mittelmaß regiert. Überhaupt gibt es zu viele Bücher: Diese Klagen hört man seit 200 Jahren, eigentlich befindet sich die Literatur immer in der Krise. Allenfalls die Symptome ändern sich wie das Wetter im Wechsel der Jahreszeiten. Noch vor kurzem jammerte man, dass im modernen Roman nicht mehr erzählt würde und die Autoren nicht mal ihr Handwerk beherrschten. Jetzt, da scheinbar alle Welt die Technik des kreativen Schreibens erlernt hat, geht das Lamento, die Literatur wirke konfektioniert und die Autoren seien geschwätzig geworden.

Da ist es schon mal gut, dass Jostein Gaarders Roman nur 270 Seiten hat. Besser noch ist, dass sein Icherzähler das Rezept wider die Verödung der Literatur parat hat. Seit seiner Kindheit ein „Einfallspinsel“, der Geschichten erfindet und lieber in seinen eigenen Phantasiewelten lebt statt in der Realität, macht Petter, genannt „die Spinne“ – denn „eine Spinne spinnt alles aus sich selber heraus“ –, daraus mit 19 seinen Beruf: Er verkauft Ideen und Exposés an Schriftsteller, denen die Inspiration ausgegangen ist, und an narzisstische Möchtegerndichter, denen das Talent fehlt, die aber zum geistigen Adel gehören und berühmt werden wollen.

Auf dem Höhepunkt beliefert dieses „Autorenhilfswerk“ Literaten quer durch Europa mit Stoff. Doch dann droht „die Spinne“ im weit gespannten Netz ihrer Beziehungen selbst zum Opfer zu werden. Unzufriedene, verschuldete oder sich erpressbar fühlende Kunden stellen ihr offenbar nach. Besonders verstörend für jemanden, der sich etwas auf seine Erfindungskraft einbildet: Unter Pseudonym erscheinen zwei Romane, deren Inhalt Petter einst selber zusammenspintisierte – aber nie weiterverkaufte.

Doch nicht erst an diesem Wendepunkt, da es dem „Großhändler der Phantasie“ an den Kragen geht, sondern schon vorher beginnt in Wahrheit der Abstieg dieses Ideenfabrikanten. Lange Zeit prägt die Kritik am Literaturbetrieb, an unserer konventionellen Literatur und unserer „Einheitskultur“ schlechthin, die mit der Kinderstunde beginnt und in der Zurichtung unseres Geistes durch die Massenmedien alltäglich geworden ist, den Roman. Gaarders Kulturkritik geht indes noch tiefer, sie untergräbt gewissermaßen ihr eigenes Fundament: Auch die Phantasie kann nämlich zur Konfektion werden. Die „Spinne“ produziert Einfälle am Fließband, und so ideenreich die einzelnen Plots wirken, auf Dauer wirken sie beliebig und sind Massenware. Wahrscheinlich kennt jedes Filmunternehmen derartige Exposés, wonach zum Beispiel ein Virus fast die ganze Erdbevölkerung ausgerottet hat und nun die letzten Menschen einen neuen Anfang wagen müssen, oder solche Dramen, wonach Zwillinge, nach der Geburt getrennt, sich Jahre später auf dem Schlachtfeld Aug in Aug gegenüberstehen, oder Krimis wie jenen vom posthum begangenen Mord: Es gibt auch einen Kitsch der Originalität.

Ausgelotet ist dieser Roman damit noch immer nicht, denn „der Schritt zurück in die Wirklichkeit“, den eines der Motti als Ausweg aus der Medienwelt beschwört, führt womöglich auf den Holzweg. Die Realität ist schließlich banal, wie Gaarders Held selbst erfährt. Nachdem er sich klischeemäßig ein Kindheitstrauma, das ihm die Flucht aus dem wirklichen Leben aufzwang, bewusst gemacht und abgearbeitet hat, ist er zwar fit fürs Dasein, hat seine phantastische Begabung aber verloren.

Mit anderen Worten: Der einzige, der wirklich originell ist und mit diesem Roman ein Meisterwerk geschaffen hat, ist der wahre „Geschichtenerzähler“ Jostein Gaarder.

Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2002. 272 S., 19,90 €.

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