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Kultur: Eingebettete Einzelschicksale

Christian Goeschel untersucht die Selbstmorde in Deutschland: vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des „Dritten Reichs“.

Dass Menschen sich das Leben nehmen, ist tragisch, aber nicht ungewöhnlich. Es kommt seit Menschengedenken vor, trotz strenger Verdikte von Staat, Religion und Gesellschaft. Und dennoch sind Häufigkeit und Motive der Selbsttötung in verschiedenen Gesellschaften sehr verschieden – um nur im Lande zu bleiben, etwa im Deutschland der Weimarer Republik und im Deutschland Adolf Hitlers. Nicht nur, weil sich die politischen Führer des „Dritten Reichs“ – Hitler, Goebbels, Himmler und nicht wenige ihrer Gefolgsleute – an dessen Ende das Leben nahmen, nachdem sie ihre Vorgänger ermordet oder in Konzentrationslager verschleppt hatten. Ihr eigenes Ende inszenierten sie als Heldentod, während sie politisch und rassisch Verfolgte ihres Regimes in den erzwungenen oder – als letzten Ausweg – freiwilligen Suizid trieben.

Es ist ein düsteres Panorama des Todes, das der deutschstämmige englische Historiker Christian Goeschel in seiner Studie über „Selbstmord im Dritten Reich“ entrollt. Es reicht, anders als der Buchtitel signalisiert, vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten und kontrastiert Statistiken, Gründe und Hintergründe von Selbsttötungen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Grund dafür war die Einsicht, dass die Wurzeln des Motivgeflechts hinter den Selbstmorden der NS-Zeit bis in die letzten Tage des Ersten Weltkriegs, die deutsche Niederlage und deren Folgen für die Weimarer Republik zurückreichen. Ihm sei, schreibt Goeschel, bei der Quellenlektüre – Polizeiermittllungen, Presseberichte, Abschiedsbriefe – schnell bewusst geworden, dass die erlebte Zeitgeschichte „für das Selbstverständnis der Nationalsozialisten und vieler Deutscher von höchster Bedeutung war“.

Das gilt sowohl für die Verzweiflungstaten enttäuschter Militärs und Nationalisten wie Karl von Schirach, den älteren Bruder des späteren Reichsjugendführers Baldur von Schirach, der nach dessen Erinnerung „das Unglück Deutschlands nicht überleben“ wollte, als auch für die nahezu epidemischen Selbstmorde von Arbeitslosen ohne Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung und persönliche Zukunft. Goeschel wurde dabei deutlich, dass er „ die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen für Selbstmorde mit Einzelschicksalen verknüpfen musste, um der Vielschichtigkeit des Phänomens ,Selbstmord‘ gerecht zu werden“.

Das lässt sich bei der Fülle der Fallbeispiele hier nicht nachvollziehen; der Autor benötigt dafür immerhin 340 Seiten. Goeschel schreibt auf ihnen ein integriertes Kapitel deutscher Sozial- und Kulturgeschichte, erzählt nach Art der britischen Historiografie, die wissenschaftliche Analyse mit der Lesbarkeit eines populären Sachbuchs verbindet. Allerdings mag das makabre Thema nur bedingt einem nach dem Wunsch des Autors „breiteren Publikum zugänglich“ sein.

Auf Statistik und amtliche Dokumente allein durfte sich Goeschel nicht verlassen, denn sie erwiesen sich nicht nur als lückenhaft, sondern auch ideologisch gefärbt und gelegentlich manipuliert. Nicht nur durch den Nationalsozialismus, sondern auch durch religiöse Tradition und familiäre Rücksichten. Wo, wie in katholischen Regionen, Selbstmord als gesellschaftliches Tabu gilt, standen Ärzte, Behörden und Angehörige oft unter Druck, Selbstmorde als Unfälle hinzustellen. Aber auch Rücksichten auf Versicherung und Versorgung von Angehörigen konnten eine Rolle spielen und die offizielle Statistik verfälschen. Der Nationalsozialismus wiederum hatte eigene Gründe, Selbstmorde zu verschweigen oder umgekehrt politische Morde an Regimegegnern als Selbstmorde hinzustellen.

Da die Nazis behaupteten, mit der Abschaffung der Arbeitslosigkeit und dem Aushebeln des Versailler Vertrags die – angeblich vom Weimarer „System“ bedingten – Ursachen für Selbstmorde aus sozialer und nationaler Verzweiflung beseitigt zu haben, waren die keineswegs sinkenden Selbstmordzahlen ein politisches Ärgernis (ähnlich wie später in der DDR, die ihre Selbstmordstatistik geheim hielt).

Hitler behauptete noch 1939, dass mit den Zeiten der Erwerbslosigkeit auch die der „ungeheuren Selbstmorde in Deutschland“ überwunden seien. Die Polizei wusste es besser: Nach dem Eingeständnis des Polizeigenerals Daluege 1938 ließ sich selbst unter den Beamten „nicht nur eine Häufung der Selbstmordfälle erkennen, sondern darüber hinaus eine tiefe, seelische Not“. SS-Führer Heinrich Himmler nannte dagegen „Selbstmordgründe in 90 von 100 Fällen läppisch“; was ihn nicht hinderte, einem verheirateten SS-Offizier wegen einer vermeintlich ehe- und ehrwidrigen Affäre nahezulegen, „seinem verfehlten Leben ein Ende zu setzen“. Er selbst besorgte das 1945 in alliierter Gefangenschaft. Die drohende Verantwortung für seine Untaten war ihm da offenbar kein läppisches Motiv.

Sehr viel tragischer sind die unzähligen Fälle jüdischer Selbstmorde im Angesicht der Deportation oder der Freitod verhafteter Widerstandskämpfer, die ihre Freunde nicht unter der Folter verraten wollten. Goeschel kennt auch Fälle deutsch-jüdischer Ehepaare, die gemeinsam in den Tod gingen; erstaunlicherweise nicht den des Berliner Schriftstellers Jochen Klepper und seiner jüdischen Frau. Waren das „Selbstmorde“ oder letzte Akte menschlicher Freiheit, in denen sich die Würde des Selbst, die Identität der Persönlichkeit, noch im Tod behauptete? Goeschel zitiert dazu einen Kollegen, den Historiker Richard Cobb, Selbstmord sei jedenfalls der „intimste und unzugänglichste menschliche Akt“. Ja, auch nach den Einblicken dieses Buchs.

Christian Goeschel: Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 338 Seiten, 21,90 Euro.

Hannes Schwenger

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