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Bonbonbunt. Szene aus Damien Chazelles Eröffnungsfilm „La La Land“ mit Emma Stone und Ryan Gosling.

©  Filmfest Venedig

Eröffnung der Filmfestspiele Venedig: Verrate deine Träume nicht

Der Lido tanzt: Die 73. Filmfestspiele in Venedig eröffnen mit einem Musical – und trauern um die Erdbebenopfer.

Inzwischen haben sie das Loch zugeschüttet, il grande buco ist Geschichte. Viele Jahre gemahnte die asbestverseuchte Baugrube auf dem Gelände des Filmfests Venedig an Korruption, Mafia und Immobilienspekulation, jetzt steht da ein knallroter Kubus auf knallgrüner Wiese. So wächst Gras über den Schandfleck auf dem Lido, und ein zusätzliches Kino hat das Festival auch, provisorisch zusammengezimmert, wie andere Mostra-Spielstätten auch. Biennale-Präsident Paolo Barrata bedankt sich im Grußwort bei der Stadtverwaltung für das Tempo, mit dem sie das Problem gelöst hat. Was sich seltsam ausnimmt, wurde die Grube für den geplanten neuen Festivalpalast doch bereits 2008 ausgehoben – und der Skandal nahm kein Ende.

Il buco, il cubo: Mit dem italienischen Buchstabendreher und dem roten Kino-Kubus ist nun auch die Idee eines völlig neuen Palastes Geschichte. Venedig richtet sich ein in seinen Vorläufigkeiten, das Kino ist ja selber flüchtige Kunst. Der alte, schneeweiße Palazzo del Cinema, der noch aus Mussolinis Zeiten stammt, trägt seine bewährten roten Fassaden-Pailletten zur Schau, gemeinsam mit den aquamarinblauen Balustraden hat sich die 73. Mostra ein knalliges Design verpasst. Nur die Anti- Terror-Betonpoller auf den Zufahrtswegen stören das heitere Bild. Italien feiert, Italien trauert, Italien klagt an. Wegen des Erdbebens von Amatrice wurde der Eröffnungsempfang gestrichen, die Festivalhotels spenden zehn Euro pro Dinner ans Rote Kreuz. Nicht das Erdbeben ist schuld an den bald 300 Toten, die Menschen sind schuld, die Behörden, zitieren die Zeitungen die scharfen Worte des Bischofs beim Staatsbegräbnis am Dienstag.

Auch das Festival setzt Solidaritätsadressen ab – und zeigt zur Eröffnung gleichwohl ein Musical. Auch das ist Kino, „La La Land“, eine bonbonbunte Parallelwelt mit Tanz und Gesang wie zu Zeiten von Ginger Rogers und Fred Astaire. Ein Film über Träumer, sagt Regisseur Damien Chazelle („Whiplash“). Über Mia und Sebastian, die kellnernde Schauspielerin und den verkrachten Jazz-Pianisten, die ihr Glück in L.A. versuchen, die Liebe finden und sie wieder verlieren. Während Mia vergeblich von Audition zu Audition eilt, wird Sebastian nur für Bargeklimper oder als Keyboarder angeheuert. Freejazz? Schnee von gestern. Derweil tobt sich Chazelle bei der Ausstattung aus, bei Kostümen, Autos und Sets in fantastischem Technicolor-Look. Emma Stone und Ryan Gosling steppen im Abendlicht über Hollywood, besingen gebrochene Herzen, halten Händchen im Kino, schweben im Griffith Observatory in den Sternenhimmel und gehen getrennter Wege, als es mit der Karriere doch bergauf geht.

Chazelle verrät seine Figuren ans Dekor

„La la Land“ (deutscher Start: 15.12.) beschwört das gute alte Hollywood und besinnt sich auf die Wurzeln der Unterhaltungsindustrie in prädigitalen Zeiten, ähnlich wie 2011 der oscarprämiert „The Artist“. „Sie verehren alles, aber sie wissen nichts zu schätzen,“ sagt Sebastian einmal. So viel Selbstkritik muss sein. Leider fehlt die Eleganz und Leichtigkeit der Musicals von einst, schon in der Eröffnungssequenz. Stau auf dem Highway, nach und nach verlassen alle Fahrer trällernd und tänzelnd ihre Autos und formieren sich zur ungeschnittenen Open-Air-Choreografie, ohne dass sich die Anstrengung und Logistik je ignorieren ließe, die eine solche Kamerafahrt erfordert.

Verrate deine Träume nicht. Noch schöner wäre es, wenn Chazelle seine Figuren nicht ans Dekor verraten würde. Der Zauber bleibt stumpf, auch wenn Emma Stone ganze Lebensdramen in ihren Gesichtszügen vergegenwärtigen kann und Ryan Gosling auf ein Pianisten-Double verzichtet hat. Für ein paar Monate Unterricht spielt er erstaunlich gut Klavier.

Die cinephilen Kids, die schon am Mittag den roten Teppich belagern, werden bei der Gala-Premiere enttäuscht sein: Gosling kommt nicht, er dreht gerade „Blade Runner 2“. Die Stardichte ist gleichwohl hoch bei dieser 73. Festivalausgabe, schicken doch allein die USA sieben (Ko-)Produktionen in den Wettbewerb. Erwartet werden Michael Fassbender und Alicia Vikander (im Liebesdrama „The Light between Oceans“), Amy Adams, Naomi Watts, Dakota Fanning, Jake Gyllenhaal, James Franco und etliche mehr. Natalie Portman verkörpert in „Jackie“ die Präsidentenwitwe, Jude Law einen (fiktiven) amerikanischen Papst in Paolo Sorrentinos TV-Miniserie „The Young Pope“. Und beim „Variety“-Empfang am Dienstag wurde Chiara Mastroianni belagert; als sympathisch unprätentiöse Löwen-Jurorin sorgt sie mit ihren Jury-Kolleginnen Nina Hoss, Gemma Arterton und Zhao Wei für Glamour.

Dass Amerika so stark vertreten ist, liegt an den Oscars. Dreimal in Folge hat sich Venedig als ideale Startrampe für die Oscar-Saison erwiesen, mit der Weltpremiere von „Gravity“ als meistnominiertem Favoriten 2014, gefolgt von den Oscar-Siegern „Birdman“ 2015 und „Spotlight“ 2016. Mostra-Chef Alberto Barbera verteidigt sich gegen den Vorwurf der Hollywood- Übermacht mit dem Ansinnen, den Autorenfilm mit dem Publikumskino versöhnen zu wollen: Es gehöre zu den Aufgaben von Festivals, die immer größere Kluft zwischen Kunst und Kommerz zu schließen. Gerade das Erzählkino gehöre ermutigt, verteidigt, beworben.

Politische und poetische Filme in Aussicht

Die Politik kommt dabei nicht zu kurz, wir leben in kriegerischen Zeiten. Der wegen seiner nationalistischen Ansichten umstrittene serbische Regisseur Emir Kusturica reist mit seiner ersten Produktion seit zehn Jahren an, „On the Milky Road“, eine Liebesgeschichte in Zeiten des Bosnienkriegs. François Ozons Melodram „Frantz“ spielt am Grab eines deutschen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg, Andrei Konchalovksys „Paradise“ in Frankreich während der Besatzungszeit. Mel Gibson bringt in „Hacksaw Ridge“ die wahre Geschichte eines US-Soldaten in Japan auf die Leinwand, der die Waffe verweigert, aber 75 Männern das Leben rettet. Und die Nebenreihe „Venice Days“ eröffnet mit „The War Show“ aus Syrien. Eine Gruppe von Künstlern und Anti-Assad-Aktivisten begleitet den eigenen Alltag mit der Kamera.

Über Nacht hat der Wind den Dunst weggeblasen, die Serenissma auf der anderen Seite der Lagune erstrahlt selber in schönstem Technicolor – auch wenn die monströsen Kreuzfahrtschiffe die Sicht versperren und Venedigs Fundamente munter weiter gefährden. Widerstand zwecklos. Und wo bleibt die Poesie? Vielleicht bringt Wim Wenders sie ja mit. 1982 gewann er mit „Der Stand der Dinge“ den Goldenen Löwen, jetzt zählt er mit der Handke-Adaption „Die schönen Tage von Aranjuez“ zu den 19 Trophäen-Anwärtern. Ein Sommertag in einem Garten, ein Mann und eine Frau sprechen über Männer und Frauen, über Kindheit, die Liebe. Kino minimalistisch. Mal sehen, ob es Welten eröffnet.

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