zum Hauptinhalt
Na? Dämmert`s? In ähnlich nachdenklicher Pose wie diese Würzburger Brunnenfigur des Urahns Walther von der Vogelweide dürften heute viele Literaturfreunde in die Zukunft blicken.

© dpa

Essay zur Frankfurter Buchmesse: Romandämmerung

Alles erfunden, oder was? Unter dem Ansturm der Wirklichkeit gilt die Gattung des Romans als überholt. Doch auch wenn die Erzählonkel und -tanten in der Mehrzahl sind: Mischformen zwischen Fiktion und Nichtfiktion sind das Aufregendste, was die Literatur dieser Jahre zu bieten hat.

Von Gregor Dotzauer

Hätte er jedes Mal tausend Pfund bekommen, wenn der Tod des Romans verkündet wurde, glaubt der Historiker Timothy Garton Ash, er wäre inzwischen steinreich. Plausibel ist aber auch die folgende Rechnung: Müsste jeder Autor hundert Euro Strafe zahlen, der sich gedankenlos über die dabei vorgebrachten Gründe hinwegsetzt, kein Staat bräuchte sich mehr um seine Schulden sorgen. Denn keiner Gattung haben Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert theoretisch wie praktisch mehr Pflöcke durch das Herz getrieben. Zugleich ruft keine mehr Wiedergänger auf den Plan, unbeeindruckt von Einwänden gegen den illusionistischen Zauber eines Schreibens, das, wie Uwe Johnson einst monierte, „bloß wahrscheinliche Leute hinstellt, wo sie nicht gestanden haben, und sie reden lässt, was sie nicht sagen würden.“

Wo das Aussterben des Romans beschworen wird, geht es also weniger um den Ruf nach kulturellem Artenschutz als um eine Aussage über seine Relevanz als Form. In der Tat herrscht eine Erzählwut, die von der Trivialliteratur und ihren Stereotypen bis zu psychologisch feinsinnigeren Welten eine anhaltende Massenproduktion bewirkt, die der Markt mit Ausnahme weniger erfolgreicher Titel kaum noch verkraftet.

Die Antiquiertheit des Romans lässt sich aber nicht daran messen. Der Realismus des 19. Jahrhunderts, den Charles Dickens und Honoré de Balzac vollendeten, ist fast völlig in die Genreliteratur ausgewandert. Seine sozialen Triebkräfte hat der Krimi aufgesogen. Seine ins Abenteuerliche und Utopische ausgreifenden Folgemodelle sind in Fantasy und Science-Fiction eingegangen. Selbst ein episches Räderwerk wie Jonathan Franzens „Freiheit“, das intelligent, menschenklug und sprachlich funkelnd alle Genrefesseln hinter sich lässt, glänzt letztlich mehr in der bewussten Erfüllung von Unterhaltungsbedürfnissen als in der Durchdringung einer beschleunigten Gegenwart. Von ihren Fliehkräften will es der Form nach nichts wissen. Doch soll man ein Ausnahmetalent wie Franzen attackieren, wenn der als höhere Literatur deklarierte Normalfall ein trister Schreibwerkstättenmodernismus ist? Und verfügen nicht auch die besten Krimi- und SF-Autoren über visionäres Genie?

Die Bruchstellen zwischen Zeitgenossenschaft und Historismus verlaufen anderswo, und auch die wirtschaftliche Marginalisierung der Literatur gegenüber der Unterhaltung ist nur bedingt ein Schaden. „Meine Bücher“, erklärte der Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul kürzlich Thomas David in der „NZZ“, hätten „noch vor 60 Jahren keine Chance gehabt, weil sie zu kompliziert sind und sich an Leser richten, die höhere Ansprüche an die Literatur stellen. Ich glaube also nicht, dass die Lesekultur verfällt, sondern, im Gegenteil, dass die Leser von einem Schriftsteller heute mehr verlangen als je zuvor. Im Grunde habe ich aber meine Probleme mit der Gegenwartsliteratur und glaube, dass der Roman als solcher an Bedeutung verloren hat. Schriftsteller sollten sich heute mit anderen Arten des Schreibens befassen, mit anderen Möglichkeiten, ihre Erfahrungen und Vorstellungen von der Welt literarisch zu verarbeiten, statt ewig diesem Romangewerbe nachzuhängen.“

Naipaul selbst hat sich, nachdem er 1961 mit „Ein Haus für Mr. Biswas“ noch einen englischen Jahrhundertroman schuf, allmählich aus diesem Gewerbe davongestohlen. In seinen Reisebüchern aus Indien und Afrika, besonders aber in dem noch als Roman firmierenden „Rätsel der Ankunft“ (1987), erprobt er ein essayistisches Schreiben, das sich von allen Plotkonventionen emanzipiert hat. Indes sollte man nicht so tun, als wären sie auf dem langen Weg des Romans ins 21. Jahrhundert nicht längst geschleift worden. Die Dominanz des äußeren Geschehens war spätestens mit Marcel Prousts „Recherche“ gebrochen. Der Fragmentierung des modernen Bewusstseins versuchten Alfred Döblin, Virginia Woolf, James Joyce und Nathalie Sarraute auf ihre je eigene Art gerecht zu werden – bis zu dem Punkt, wo das Romaneske des Romans nicht mehr zu erkennen war.

Falls darin eine Krise des Fiktionalen lag, so war sie getragen vom Misstrauen gegenüber der unsichtbar gemachten Künstlichkeit, aus deren Trockeneisnebeln und Glyzerintränen ein Realitätseffekt erstehen sollte. Niemand hat diesen Zug des Romans schärfer kritisiert als Alain Robbe-Grillet. Die Spielarten des Nouveau Roman, für die er selbst, Michel Butor und Claude Simon standen, waren ein Überwindungsversuch – der andere die Meta-Romane von Italo Calvino, Georges Perec oder Robert Coover, deren Erzähler sich ständig selber auf die Finger klopften: Es ging um Illusionszerstörung durch Sichtbarmachen des Gebälks.

Es war damals nicht zu ahnen, dass daraus ein Volkssport, ja ein neuer Erzählstandard werden würde. Mit weltliterarischer Souveränität betreibt dieses Spiel etwa der gerade als DAAD-Stipendiat in Berlin lebende Argentinier César Aira. Überzeugt davon, dass die Gattung des Romans an einem unvermeidlichen Tiefpunkt angekommen ist, wie er kürzlich bei einer Lesung aus seinem Postpostpostroman „Der Literaturkongress“ bekannte, haucht er ihr mit der Sehnsucht nach den farbenprächtigen Erzähluniversen des 19. Jahrhunderts noch einmal ironisches Leben ein. Der Brite David Mitchell beweist mit seinem epischen „Wolkenatlas“, dass sich metafiktionalem Erzählen bei allem Augenzwinkern sogar noch ein hohes Maß von Ernst abgewinnen lässt. Und auch in der jüngsten deutschsprachigen Literatur ist Meta gleichsam der neue Mainstream: in Daniel Kehlmanns „Ruhm“, in Thomas Glavinics „Das bin doch ich“, in Clemens J. Setz’ „Indigo“ oder, mit purer Alberei, in Wolf Haas’ aktuellem Roman „Verteidigung der Missionarsstellung“.

Wenn es heute eine Krise des Fiktionalen gibt, so spielt sie sich im Kampf mit dem Nichtfiktionalen ab – und das erst einmal jenseits der Literatur. Fernsehproduzenten klagen reihum, wie schwer es geworden sei, rein fiktionale Stoffe zu verkaufen. Gefragt sind Reality-Formate zwischen Show und Soap sowie Zeitgeschichtliches. Nicht umsonst hat Deutschlands erfolgreichster TV-Produzent Nico Hofmann von Stauffenberg bis Mogadischu, von Rommel bis zur Luftbrücke Schlüsselmomente deutscher Geschichte in Prime-Time-Unterhaltung verwandelt. Und Guido Knopp, Inbegriff des Histotainments, hat Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg einer melodramatischen Verwurstung unterworfen, deren Erregungspotenziale kein differenziert schreibender Historiker erreicht.

Die Überschreitung von Nichtfiktion zu Fiktion findet nach beiden Richtungen statt, wobei gerade bei den vordergründig dokumentarischen Formen fiktionale Konventionen regieren: Figurentypisierung und Drehbuchvorgaben im Reality-TV oder Spannungsbögen bis hin zur Dreiaktstruktur. Nun lässt sich der Grenzverkehr schon deshalb nicht vermeiden, weil jedes Artefakt die Begriffe von Neuem aushandelt: Jeder aufgeklärte Zeitgenosse weiß, dass sich die narrativen Anteile bei der Schilderung geschichtlicher Sachverhalte nicht ausblenden lassen.

Sie sind, was der Historiker Hayden White die „Fiktion des Faktischen“ genannt hat. Wobei dies eben nicht die Lizenz zur freien Erfindung beinhaltet, sondern den Auftrag zur Bestimmung des Übertrittsmoments. Timothy Garton Ash hat in seiner Essaysammlung „Facts Are Subversive“ am Beispiel des Schriftstellerreporters Ryszard Kapuscinski vor den Abgründen gewarnt, in die man sich begibt, wenn man die Unterschiede zwischen einer Literatur der Fakten und einer der Fiktionen leichtfertig aufgibt.

Aus all dem folgt keineswegs die Höherrangigkeit des Nichtfiktionalen. Künstlerisches Gelingen und Misslingen dürften auf beiden Seiten gleich verteilt sein. Es spricht aber dafür, an der Literatur als einem Medium festzuhalten, das die Kämpfe um die Grenzverläufe genauer nachzeichnen kann als jedes andere. Im Spannungsfeld von Zeugenschaft, Erinnerung und Beschwörung von Wirklichkeit ist es ihr Privileg, in jedem Text wieder nach einem Ethos der Darstellung zu suchen, in dessen Zentrum wenn nicht der fragwürdige Begriff von Wahrheit, so doch eine Idee von Wahrhaftigkeit steht.

Vielleicht sind deshalb die Hybride aus Fiktionalem und Nichtfiktionalem das Aufregendste, was die Literatur gerade zu bieten hat. Manchmal, wie bei J. M. Coetzee, verschmelzen sie sogar mit dem Metafiktionalen. In diesem Herbst sind es die mitreißenden Reportagen des Amerikaners John Jeremiah Sullivan, der in „Pulphead“, den New Journalism belebend, immer wieder dem unheimlichen Punkt nachgeht, wo medial durchtränkte Welten das vermeintlich Authentische verschlingen. Es ist der betörende Debütroman des nigerianischen New Yorkers Teju Cole, der in „Open City“ auf den Spuren von V. S. Naipaul und W. G. Sebald, einem Pionier des hybriden Erzählens, den Migrationsdschungel nach 9/11 durchmisst.

Es sind die Romane des Schweden Steve Sem-Sandberg, der vor einem Jahr in „Die Elenden von Lodz“ dem jüdischen Ghetto der Stadt ein fiktionales Denkmal setzte, das den Studien der Historiker als mindestens ebenbürtig gilt. Mit „Theres“ ist nun ein älterer Roman von ihm erschienen, der ein faktenunterfüttertes Charakterbild von Ulrike Meinhof zeichnen will, freilich im schlecht Ausgedachten, weil psychologisch schlicht Unterschobenen stecken bleibt. Es sind Rainer Merkels Reiseberichte aus dem Kosovo, aus Liberia und Afghanistan, die unter dem Titel „Das Unglück der anderen“ seine bisherigen Romane mit geradezu verzweifelter Realitätsversessenheit hinter sich lassen wollen. Und natürlich ist es das Justizaktenhaltige von Ursula Krechels dokumentarisch anmutendem Roman „Landgericht“, der gerade den Deutschen Buchpreis erhielt.

Sie alle definieren sich mal mehr, mal weniger erfolgreich durch ihren Ton, ihre Form, ihre Gattungsherkunft – und bestellen bis auf das Interesse, zwischen Imagination und Wirklichkeit zu operieren, doch kein einheitliches Feld. Eine Norm existiert ja nicht einmal für das Memoir als moderne Variante des Autobiografischen. Die gemeinsame Aufgabe der Hybride besteht allerdings darin, sich gegen eine Übermacht des fiktional Standardisierten zu behaupten, eine Konkurrenz von Film und Computerspielen, die mitunter auf den gleichen Geräten stattfindet. Denn das E-Book ist in der Hoffnung, literarischen Minderheiten aufzuhelfen, eine Chance für wenige und ein Einfallstor für die vielen. Ausgerechnet das technologisch fortschrittlichste Lesen, so muss man wohl prophezeien, legt den Roman an seine konservativsten Ketten. Was stirbt da also, was lebt auf?

Die amerikanische Medienwissenschaftlerin Kathleen Fitzpatrick erklärt in „The Anxiety of Obsolescence“, dass die laut ausgesprochene Angst, überflüssig zu werden, vor allem dazu diene, sich einen geschützten ästhetischen Raum einzurichten. „Wenn ich Schriftsteller wäre“, zitiert sie eine Figur aus Don DeLillos Roman „Die Namen“, „wie sehr würde ich es genießen, gesagt zu bekommen, dass der Roman tot sei. Wie befreiend wäre es, an den Rändern zu arbeiten, außerhalb einer zentralen Sichtweise.“ Diese Befreiung hat längst stattgefunden. Es braucht nur den Mut, sie auch als solche zu erkennen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false