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Kultur: Esst mehr Muscheln!

Strandkomödie à la française: „Meeresfrüchte“ mit Valeria Bruni-Tedeschi

Was soll man bloß tun an einem verregneten Urlaubstag an der Côte d’Azur? Beatrix (Valeria Bruni-Tedeschi) hat da keine Probleme. Sie schreitet mit Hotpants und Strohhut die Treppe des Ferienhauses herab und singt einen Meeresfrüchte-Chanson von Brigitte Bardot. „Coquillages et Crustacés“: schlüpfrige Zeilen über Schnecken und Austern und das Geheimnis schillernder Perlmuttfalten. Und ihr Mann Marc (Gilbert Melki) spielt Gitarre dazu.

Violets heißen die Muscheln mit dem glibbrig gelben, jodhaltigen Fleisch, die man mit Zitrone beträufelt und herunterschlürft wie rohe Austern. Beatrix und Marc lieben Violets. Ihre Kinder hingegen finden sie eklig. Das Zeug verklebt doch nur die Synapsen, meint der pubertierende Charly (Romain Torres). Es ist nicht das einzige Mal in dieser Sommerkomödie von Olivier Ducastel und Jacques Martineau, dass die Jugend mehr Wirklichkeitssinn an den Tag legt als die Erwachsenen. Allerdings hat Charly auch so seine Macken. Selbst an heißesten Tagen erweist er sich als exzessiver Warmduscher, weshalb die Eltern sich zu Ermahnungen in Sachen angemessener Waschwassermenge angehalten sehen. Eine ganz normale Familie – in einem ganz normalen Familienurlaub.

Oder vielleicht doch nicht? Die Regisseure von „Meeresfrüchte“ gestatten ihren Protagonisten jedenfalls eine gehörige Portion erotischer Anarchie. Während Tochter Laura sich mit dem Motorradfreund über die Pyrenäen in noch südlichere Gefilde davonmacht, folgen dem Muschelschlürfen im Dorf an der Mittelmeerküste Amouren zuhauf, heimliche Ausbrüche und andere kleine Fluchten aus dem Familienkreis. Irrungen, Verwirrungen: Wer kann schon schlafen in schwülen Nächten?

Ja, die Lust und die Liebe – wir sind so frei. Mit leichter Hand servieren Ducastel und Martineau eine Burleske voller libidinöser Turbulenzen. Ist Charly eigentlich schwul? Wo treibt er sich herum mit seinem ebenfalls angereisten Kumpel aus Kindertagen? Hatte Papa früher etwa eine Liaison mit dem Dorfklempner? Und was treibt Maman mit diesem seltsamen Herrn (Jean-Marc Barr), wenn sie beim Strandausflug mal eben hinterm Felsen verschwindet? Spaziergänge münden in schnellen Sex, Büsche bieten provisorische Rückendeckung, und im blümchentapezierten, von der Tante geerbten Ferienhaus knallen unentwegt die angegammelten Türen. Hitzestau: Irgendwann geht jeder mal duschen – keineswegs der Hygiene wegen.

Eifersucht? Wir sind in Frankreich, da münden Seitensprünge nicht in Familiendramen. Und da kippt der Klamauk à la Vaudeville auch nicht in plumpes Geblödel. Die Situationskomik von „Meeresfrüchte“ kommt nicht selten wie eine Improvisation über die Frage daher, wie um Himmels willen es Familienmitglieder auf die Dauer eigentlich miteinander aushalten können. Da ist der amüsierte Seitenblick auf Papas blinden Hobbygärtner-Aktionismus, wenn er nicht mehr weiß, wohin mit Lust und Frust. Da ist die pädagogisch wertvolle, von der Jugend gleichwohl mit Befremden zur Kenntnis genommene Aids-Moralpredigt des Vaters, zu der ausgerechnet Radieschen geknabbert werden. Vor allem aber ist da die verschmitzte Art, mit der die wunderbare Valeria Bruni-Tedeschi, Gilbert Melki und Jean-Marc Barr die Erwachsenen verkörpern.

Auch die Regie nimmt sich Freiheiten heraus und frönt dem Spieltrieb. Das Komödien-Genre selbst leistet sich gewissermaßen Seitensprünge, wenn es Anleihen beim Realismus der nouvelle nouvelle vague macht, um im nächsten Moment wieder Musical-Partikel einzustreuen. Wenn nichts mehr hilft, dann wenigstens die flüchtige Wohltat des Gesangs. So paart sich schiere Fleischeslust mit feiner Melancholie und dem Esprit jener lauen Julinächte, in denen die Sinne hellwach und die Begierden leicht schläfrig werden. Ein Film wie ein Taumel, sanft wie eine Sommerbrise und doch mit ebenso sanften Realitätsschocks versetzt, wenn das Duschwasser mal wieder zur Unzeit eiskalt wird.

Mal im Ernst. Ist das mit der grenzenlosen Toleranz der Gefühle nicht ziemlich utopisch? Ist „Meeresfrüchte“ ein Sommertraum, ein Familienmärchen? Klar, im wirklichen Leben ist soviel Laissez-faire nicht drin. Und trotzdem erzählt dieses Märchen von gewöhnlichen Männern und Frauen. Von Menschen mit Macken und Malaisen, Altersfalten, Jugendängsten und einem reichlich zerschlissenen Nervenkostüm. So hält das Kino bei aller Heiterkeit auch ein paar Tipps für die Kunst bereit, dem Lebensfrust wenigstens hier und da ein Schnippchen zu schlagen.

Esst mehr Muscheln! Nach der Heimkehr sind wieder alle ganz brav – bis zum nächsten Strandurlaub.

In Berlin ab Donnerstag im Delphi, fsk am Oranienplatz, International, Kino in der Kulturbrauerei, Yorck, Xenon. OmU im Cinema Paris

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