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Ungarns früherer Außenminister: Tibor Navracsics (l.).

© dpa

EU-Kulturkommissar Tibor Navracsics: Kein geborener Scharfmacher

Kultur funktioniert in Europa überall anders als in Ungarn. Das Land fällt derzeit durch seinen kulturpolitischen Kahlschlag auf. Jetzt soll ein loyaler Orbán-Mann Kulturkommissar der Europäischen Union werden. Es gibt trotzdem gute Gründe, die Personalie gelassen zu sehen.

Wenn es um Tibor Navracsics geht, dann gibt sich Wikipedia bestürzend staubig. Auf den wenigen Zeilen der ihm gewidmeten, vor sich hinschlummernden Seite weiß die deutsche Ausgabe des sonst so flinken Lexikons nur mitzuteilen, der 1966 geborene Rechtsanwalt sei seit 2010 Ungarns Justizminister. Den Aufstieg zum Außenminister im zweiten Kabinett Viktor Orbáns, Stand Juni 2014, haben die Wikipedisten gar nicht mehr mitbekommen.

Da wirkt der allerneueste Karriereschritt Navracsics’ – soeben berufen zum EU-Kommissar für „Bildung, Kultur, Jugend und Bürgerschaft“ – zunächst elektrisierend. Schließlich wird der noble Job dem Vertreter eines Landes anvertraut, das in den Jahren der durch Orbán geführten Fidesz-Regierung durch kulturelle und mediale Kahlschlagpolitik auffiel. Ein loyaler Orbán-Mann, in früheren Oppositionsjahren dessen aggressiver Fraktionschef, soll nun die Kulturpolitik eines Gremiums gestalten, das sich unter Jean-Claude Juncker zudem dezidierter als bisher als Europas Regierung versteht?

Lesbare Zurückhaltung

Es gibt allerdings Gründe, die Personalie eher gelassen zu sehen. Zunächst ist das Ressort innerhalb der 28-köpfigen, alle EU-Länder personell spiegelnden Kommission beileibe kein zentrales. Unter den sieben Kulturkommissaren seit 1989 ist nur die Luxemburgerin Viviane Reding erinnerlich, die sich für den Ausbau des Erasmus-Programms einsetzte. Richtig populär wurde sie erst später als Medienkommissarin, als sie den europäischen Telefonriesen den Spaß an den exorbitanten Mobilfunk-Roaminggebühren verdarb. Die letzte Kulturkommissarin wiederum, Androulla Vassiliou, ist vornehmlich in ihrer Funktion als Gattin eines Ex-Präsidenten Zyperns aufgefallen.

Nun mag Tibor Navracsics profilierter auftreten wollen, womöglich gar als unbequemer Strohmann des Autokraten Viktor Orbán. Andererseits lässt sich aus den Interviews, die er Medien außerhalb Ungarns gab, eher eine gewisse Umsicht, ja, Zurückhaltung lesen. Als Außenminister stand er zu Ungarns loyaler Rolle in der EU, warb für den baldigen Beitritt von Serbien und Montenegro und gab im Ukraine-Konflikt nur zu bedenken, die Sanktionen könnten besonders Ungarn wirtschaftlich treffen. Auch erkennt Navracsics, und das ist das für seine neue Aufgabe wohl wichtigste Statement, Ungarns „ernste Ansehensprobleme“ in Europa.

Kein geborener Scharfmacher

So spricht kein geborener Scharfmacher. Auch wenn sich Ungarn innerhalb der EU unter Orbán leider zu einem „nationalen Obrigkeitsstaat mit einer gewissen Nähe zum Neofaschismus“ (György Konrád) entwickelt, so ist doch auf einen integrierenden Effekt der ungarischen EU-Aufgabe zu hoffen. Kultur funktioniert in Europa überall anders als in Ungarn, wo unliebsame Chefs von Museen und Theatern geschasst und staatliche Kulturgelder nach ideologischer Günstlingswirtschaft verteilt werden und jede staatskritische Kreativität stigmatisiert und abgewürgt wird. Jüngstes Beispiel: die massive Behinderung der Verteilung ausländischer Gelder an orbán-unliebsame Kulturprojekte.

Genau so geht Ansehensverlust. Stoppen lässt er sich, indem die Ungarn sich zuerst ansehen, wie Europa kulturell tickt – mit seinem gemeinsamen kulturellen Erbe und Selbstverständnis. Und indem sie sich – weg von den neueren Irrwegen – abgucken, wie Freiheit geht. In dem Kontinent, in dessen Mitte sie leben. So selbstverständlich wie alle anderen.

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