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Kultur: Evolution im Zeitraffer

Die Berliner Choreografin Toula Limnaios mit „The Thing I Am“ in der Halle Tanzbühne Berlin.

Von Sandra Luzina

Auf Toula Limnaios ist doch Verlass. Auch in diesem August bringt die Berliner Choreografin ein neues Stück heraus. Mögen die Zuschauer in der Halle Tanzbühne, einer ehemaligen Turnhalle, auch noch so schwitzen: den Tänzern scheinen die Temperaturen nichts anzuhaben. Limnaios hat sich mit ihren existenziellen Tiefenbohrungen einen Namen gemacht. Auch „The thing I am“ ist keine leichte Sommerkost, das Stück geht vielmehr der philosophischen Frage nach, aus welchem Stoff wir Menschen gemacht sind.

Das Stück mutete an wie eine Evolution im Zeitraffer. Anfangs sehen die acht Tänzer in ihren hellen Kostümen wie Sommergäste aus. Auch die männlichen Tänzer tragen Rock, die Geschlechter sind hier noch nicht so deutlich unterschieden. Nacheinander sinken und stürzen alle zu Boden, als ob eine unwiderstehliche Kraft sie nach unten zieht. Wie sie sich auf dem Rücken oder dem Bauch über den Boden schieben und schlängeln, sind sie völlig der Schwerkraft hingegeben. Das Gewimmel der Leiber lässt an Einzeller denken. Die Tänzer-Organismen suchen Kontakt, angeln mit den Füßen nacheinander, verhaken sich, rollen übereinander. Es ist schon lustig, wie schwerfällig sich diese doppelgeschlechtlichen Wesen fortbewegen.

Wenn dann Frank Sinatra den Cole-Porter-Song „I've got you under my skin“ singt, signalisiert das einen Entwicklungssprung. Die Männer ziehen nun dunkle Anzüge an, die Frauen schlüpfen in bunte Sommerkleider – die binäre Geschlechterordnung hat sich durchgesetzt. Und schon beginnt das Gerangel. Die rot gelockte Marika Gangemi wird von ihrem Partner bewegt, als wäre sie eine leblose Puppe. Er legt ihren schlaffen Arm um sich, doch sie entgleitet ihm immer wieder. Hironori Sugata hängt dann jedem Tänzer einen Rucksack oder eine Tasche um – jeder hat hier sein Päckchen zu tragen. Karolina Wyrrwal sticht von Anfang an hervor. Mit platinblondem Schopf und schwarzem Mantel ist sie Außenseiterin. Sie kriecht zwischen den Beinen der anderen herum und sucht verzweifelt nach Anschluss. Von zwei Männern wird sie wie ein lästiges Möbelstück hochgehoben und aus dem Weg geräumt.

Wenn Mahlers Lied „Nun will die Sonn’ so hell aufgehen“ aus den „Kindertotenliedern“ erklingt, pressen die Tänzer ihre Hände vors Gesicht. Ein Paar verbohrt sich in seinen Schmerz. Doch der Tanz bleibt hinter der Dramatik der musikalischen Gestaltung zurück; es ist die Stimme Dietrich Fischer-Dieskaus, die hier unter die Haut geht.

Limnaios zeigt nicht nur, wie stark wir von Emotionen getrieben sind. Sie deutet auch die Doppelnatur des Menschen als geistiges und sinnliches Wesen an. Die Tänzer streben nach oben, höheren Zielen entgegen. Doch es zieht sie immer wieder zu Boden. Vielleicht gab es ja ein Sonderangebot im Matratzen-Outlet. Polster spielen hier jedenfalls eine wichtige Rolle. Wenn Ann-Christin Zimmermann und ihr Partner sich im furiosen Paar-Duett gegenseitig an die Wand nageln, dämpfen sie den Aufprall. Später laden die Tänzer sich die Matratzen auf den Rücken, während eine Frau auf diesem menschlichen Polster herumspaziert. Wir trampeln ganz schön aufeinander herum, scheint die Szene zu suggerieren, aber wir können uns auch gegenseitig unterstützen. Zur atmosphärisch dichten Musik von Ralf R. Ollertz gelingen Toula Limnaios furiose Tanzszenen, auch wenn die vertanzte Entwicklungsgeschichte manchmal etwas schematisch wirkt.

Am Ende stülpen sich Samuel Minuillon und Karolina Wyrrwal durchsichtige Masken über, die ihnen ein Dauergrinsen ins Gesicht schreiben, und tänzeln mit Ohrstöpseln bestückt quer über die Bühne. Toula Limnaios hält dem allgegenwärtigen hedonistischen Treiben in Berlin einen Zerrspiegel vor. Gleichwohl ist die Szene in ihrer Amüsierwut sehr treffend. Ist der Mensch des 21. Jahrhunderts wirklich die Spitze der Evolution? Die Choreografin scheint da ihre Zweifel zu haben. Sandra Luzina

wieder am 4., 8.–11., 15.–18.8., 21 Uhr

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