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Film: Vor uns die Sintflut

Stimmungsbild des heutigen Amerika: Bei den Oscars übersehen, aber viel gerühmt: Jeff Nichols’ Weltuntergangsvision „Take Shelter“.

Ein Mann steht vor seinem Haus. Er blickt über das flache Land in die Ferne. Sein Gesicht verrät Unruhe, nein, was die Augen von Curtis LaForche (Michael Shannon) verraten, ist Angst. Am Horizont zieht ein gewaltiger Sturm auf – ein Tornado, der mit zerstörerischem Zorn über das Land hinwegzufegen und alles in den Abgrund zu stürzen droht. Irgendwann erwacht der Mann. War alles nur ein Albtraum?

Später, bei der Arbeit am Bau, hört er ein Donnern am Himmel, das ihn zusammenzucken lässt – sein Kollege Dewart (Shea Whigham) hingegen scheint das markerschütternde Grollen gar nicht wahrzunehmen. Curtis sieht unheimliche Vogelformationen am Himmel schwirren, die mit rasender Geschwindigkeit durch seine Kleinstadt in Ohio fegen. Ölig-brauner Regen tropft auf ihn herab. Möbel fangen an, im Raum zu schweben. Sein Hund attackiert ihn. Alles nur Träume, Wahnvorstellungen? Oder hat Curtis prophetische Visionen vom Weltuntergang?

Lange Zeit hält Regisseur Jeff Nichols diese Fragen in der Schwebe. Sein zweiter Spielfilm „Take Shelter“ lässt sich als packende Studie über das Heraufdämmern paranoider Schizophrenie lesen. In Curtis’ Familiengeschichte gibt es eine Reihe psychischer Krankheitsfälle. Bei seiner Mutter (Kathy Baker) wurde Schizophrenie diagnostiziert, als sie so alt wie Curtis war. Wie er, voller Scham, an sich selbst die Krankheitszeichen zu sehen beginnt, wie er sich immer mehr um seine Frau Samantha (Jessica Chastain) und die taube Tochter Hannah (Tova Stewart) sorgt – das ist überzeugend in Szene gesetzt. Mit stiller Verzweiflung kämpft Curtis gegen die inneren Dämonen an. Wie kaum ein anderer amerikanischer Schauspieler seiner Generation besitzt Michael Shannon die Fähigkeit, die tief sitzende Seelenpein enigmatischer Figuren sichtbar zu machen – sei es in William Friedkins „Bug“, in „Revolutionary Road“ oder in der grandiosen Fernsehserie „Boardwalk Empire“.

Gleichzeitig klingen in „Take Shelter“ genug biblische Untertöne an, um die Vermutung zu nähren, Curtis besitze tatsächlich seherische Gaben. Vielleicht ist es daher sogar höchst vernünftig, dass Curtis den Sturmbunker in seinem Garten mit einiger Verbissenheit zu vergrößern beginnt. Mit „A Serious Man“ – auch hier spielt ein heraufziehender Sturm eine wichtige Rolle – hatten die Coen-Brüder vor drei Jahren eine zeitgenössische Paraphrase auf die Hiob-Geschichte vorgelegt. Auch „Take Shelter“ atmet die Tradition apokalyptischer Rhetorik, die bei den frühen Siedlern beginnt und bei Michelle Bachmann und anderen bibelfesten Populisten keineswegs endet. Doch während die Coen-Brüder auf schwarzen Humor abzielten, erschafft Jeff Nichols die bedrohliche Stimmung eines psychologischen Untergangsthrillers.

Die Intensität von „Take Shelter“ speist sich weniger aus dem Zerstörungsszenario, das sich am Himmel zusammenbraut, sondern aus der Angst vor dem Verlust des Rahmens aus Harmonie, den Curtis seinem Leben gegeben hat. So wird der Film unter der Hand zum Stimmungsbild des heutigen Amerika: Die Angst vor dem Niedergang macht sich überall breit. Schon Jeff Nichols’ Debüt „Shotgun Stories“ (2007), ein Drama um zwei verfeindete Familienclans, war die US-Version einer griechischen Tragödie. Nichols behauptete darin, dass die Trias aus Hass, Rache und Gewalt seit über 2000 Jahren unverändert wiederkehrt. In „Take Shelter“ hört der 33-Jährige unserer Gegenwart den unruhigen Puls ab. Sein Protokoll klingt unheimlich.

Ab Donnerstag im Cinemaxx, Colosseum, FaF, Kant, Kulturbrauerei, Passage; Originalversion im Cinestar SonyCenter, OmU im Babylon Kreuzberg, Central und International

Julian Hanich

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