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Philipp Ruch, der Gründer des "Zentrums für Politische Schönheit".

© Patryk Witt / Promo

"Flüchtlinge Fressen" am Gorki-Theater: Mit Verstörung gegen die europäische Mauer

Zwei Wochen nach Abbruch seines Aktionstheaters „Flüchtlinge Fressen“ vor dem Gorki-Theater zieht Philipp Ruch Bilanz. Das Stück geht nun vor Gericht weiter und will eine historische Änderung der Gesetze. Ein Interview.

Das Aktionstheater „Flüchtlinge Fressen – Not und Spiele“ vor dem Gorki-Theater ist unblutig zu Ende gegangen. Die Künstler hatten angekündigt, die syrische Schauspielerin und Geflüchtete May Skaf werde sich von Tigern fressen lassen. Zudem sollte eine Chartermaschine mit syrischen Flüchtlingen aus der Türkei am Flughafen in Berlin landen. Der Flug wurde untersagt, die Maschine startete nicht, und Skaf hat sich nicht den Tigern zum Fraß vorgeworfen – sondern den mehr als 1.300 Zuschauern. Durch eine poetische Rede brachte sie wörtlich zum Ausdruck, was täglich im Mittelmeer geschieht: Menschen sterben und die europäische Politik schaut zu. Die Regierungen machen sich durch unterlassene Hilfeleistung zu Mördern, sagt das Zentrum für Politische Schönheit, das für „Flüchtlinge fressen“ verantwortlich war. Am Ende stand wiedermal der Vorwurf nicht nur an die Politik, sondern auch an die Bevölkerung: Warum unternehmt ihr nichts? Warum lasst ihr zu, dass Menschen auf der Flucht im Mittelmeer sterben?

Der Leiter des ZFPS, Philipp Ruch, hat politische Philosophie studiert und spricht vom Theater als „fünfter Macht“ im Staat.

Herr Ruch, welches Ziel verfolgten Sie mit „Flüchtlinge Fressen – Not und Spiele“? Und haben Sie dieses Ziel erreicht?
Es ging einzig darum, sich des strafrechtlich relevanten Vorwurfes der Beihilfe zum mehrfachen Suizid schuldig zu machen. Kommende Historiker werden nämlich irgendwann feststellen, dass dies exakt wiedergibt, wie wir uns des Mittelmeeres bedienten: wir machen uns alle der massenhaften Beihilfe zum Suizid schuldig. Es gibt ein Gesetz, das Menschen in tiefster Not verbietet, die einfachsten Transportmittel zu benutzen, um in Sicherheit zu gelangen. Es war ja nicht nur May Skaf, die sich von Europa fressen lassen wollte. Es standen zwölf Flüchtlinge bereit. Wir mussten einiges tun, damit am Ende die unglaublichen Sätze von May Skaf nicht von einer verzweifelten Tat überschattet wurden: „Es wäre falsch, etwas im Theater zu Ende zu bringen, das noch lange nicht zu Ende ist. [...] Was wäre mein Schrei gegen die ungehörten Hilferufe nachts auf dem Meer?“

115 syrische Flüchtlinge sollten von der Türkei mit einem Charterflug nach Deutschland geflogen werden. Es sollen Angehörige von bereits in Deutschland lebenden Flüchtlingen sein. Zuletzt kamen einige Zweifel auf, dass es diese Menschen wirklich gibt, von denen sie sagten, es seien die Hauptdarstellen ihres Stücks „Flüchtlinge fressen“. Also haben wir eine Inszenierung ohne Hauptdarsteller gesehen?
Mit dieser Frage sollten Sie sich ans Auswärtige Amt, ans Kanzleramt und ans Bundesinnenministerium wenden. Denen lagen sämtliche Personendaten vor, um über Leben und Tod unserer Passagiere entscheiden zu können. In der Türkei warten mindestens 200.000 Menschen auf Familienzusammenführung mit ihren Liebsten. Sie glauben nicht ernsthaft, dass wir uns die Mühe machen, ein Flugzeug zu chartern und dann keine 115 syrischen Kriegsflüchtlinge finden, um das Flugzeug voll zu kriegen.

Die 115 Personen durften nicht fliegen. Wie geht es den Menschen jetzt? Welche Versprechen haben Sie den Angehörigen gemacht? Haben diese Menschen wirklich geglaubt, bald ihre Familie am Flughafen von Berlin empfangen zu können?
Zunächst muss festgehalten werden, dass sich eine kleine Sensation ereignet hat. Die Europäische Union, allen voran die Bundesrepublik, hat einen Visumszwang für Kriegsflüchtlinge eingeführt. Damit brechen wir mit der zentralen Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg – der Genfer Flüchtlingskonvention. Die meisten Journalisten fanden es nicht besonders aufregend, dass das deutsche Innenministerium bei Air Berlin die Bundespolizei vorbeischickt und die völkerrechtlich völlig unhaltbare Rechtsauffassung der Bundesregierung nachreicht, es gäbe keine legale Grundlage für den Transport von syrischen Kriegsflüchtlingen mehr. Dass das BMI einen Flug verhindert, scheint selbst für die versierten politischen Beobachter keinen „Neuigkeitswert“ mehr zu besitzen. Das sagt einiges aus über unsere Abgestumpftheit gegenüber der Flüchtlingsabwehrpolitik der Bundesregierung.

Den Angehörigen geht es dreckig. Wir werden für unsere 115 Mandanten Klage einreichen. Viele Journalisten haben Tiger gesehen und dann die eigentliche Sensation verpasst. Einigen wenigen ist aber nicht verborgen geblieben, dass damit von Anfang an ein Musterfall konstruiert wurde, der ziemlich gute Chancen auf Erfolg beim Bundesverfassungsgericht hat. An eine veränderte Rechtsprechung könnten irgendwann alle Menschen in Not anknüpfen.

Einiges los vor dem Gorki-Theater. Die syrische Schauspielerin May Skaf lässt sich nicht von Tigern fressen, sondern hält eine poetische Rede auf Syrisch.
Einiges los vor dem Gorki-Theater. Die syrische Schauspielerin May Skaf lässt sich nicht von Tigern fressen, sondern hält eine poetische Rede auf Syrisch.

© Patryk Witt / Promo

Was entgegnen Sie Kritikern, die von einer Instrumentalisierung des Flüchtlingselends für PR-Zwecke sprechen? Dies ist wohl der häufigste Vorwurf – neben der Frage der Tierquälerei, da die Haltung der Tiger vor dem Gorki-Theater fragwürdig gewesen sei.
Peter Bergson hat 1942 ganzseitige Werbeanzeigen gegen den Holocaust in der New York Times geschaltet. Damals wie heute ist die Kritik kaum weitergekommen. Wir instrumentalisieren das Massensterben an den europäischen Außengrenzen nicht – es ist unser erklärtes Ziel, es zu beenden! Der Vorwurf wird meist von Menschen gemacht, die sich weder mit dem Mittelmeer, dem Beförderungsverbot für Flüchtlinge, noch mit unserer Arbeit ernsthaft auseinandersetzen. Zum Tierschutz gibt es wenig festzuhalten. Da die Tiger aus Libyen stammen, können wir versichern, dass die unter Gaddafi wesentlich schlechter gehalten wurden als unter unserem bulgarischen Niedriglöhner, der mehr schlecht als recht seiner Rolle als Dompteur gerecht wurde. Die Tiger wären ja beinahe auf die Fanmeile ausgebüchst. Dann wäre ordentlich was los gewesen in Fussball-Deutschland.

Oscar Wilde schreibt in seinem Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“: „Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken.“ Mitgefühl ersetzt Handeln nicht. Wie will das ZPS Politiker und Bürger zum Handeln bewegen? Viele Kritiker meinen, es würde mit seinen Inszenierungen das Mitgefühl der Menschen penetrieren – aber kein Umdenken erschaffen. Oder wie es der Philosoph Slavoj Zizek in seinem Buch „Der neue Klassenkampf“ formuliert: Das Ziel sollte sein, die Basis der Gesellschaft weltweit so umzugestalten, dass keine Flüchtlinge mehr auf den Weg gezwungen werden. Die Zurschaustellung altruistischer Tugenden hingegen verhindere letztlich die Umsetzung des Ziels.
Oscar Wilde hat das zentrale Problem des 20. Jahrhunderts, den Holocaust, nicht einmal mehr erlebt. Man stelle sich vor, ein findiger Schriftsteller hätte solche Sätze dem polnischen Widerstand gegen Auschwitz an den Kopf geschmettert. Solche Gedanken vernebeln die Flüchtlingsabwehr, die seit 15 Jahren im ganz großen Stil organisiert wird.

Umdenken beginnt mit dem Akt der Selbsterkenntnis. Aus der Differenz zwischen dem, was wir sind und dem, was wir einmal sein wollten, erwachsen viel dauerhaftere Handlungen als aus Online-Petitionen, wie sie Amnesty International oder Pro Asyl Woche für Woche veranstaltet. Bezeichnenderweise haben beide Organisationen bis heute nicht das Geld für einen Flug von Kriegsflüchtlingen aus der Türkei nach Deutschland auf den Tisch gelegt. War es nicht mal deren Kernaufgabe, die Missstände schonungslos darzulegen?

"Wir sind in der Lage, das Massensterben im Mittelmeer sofort zu stoppen"

Philipp Ruch, der Gründer des "Zentrums für Politische Schönheit".
Philipp Ruch, der Gründer des "Zentrums für Politische Schönheit".

© Patryk Witt / Promo

In Ihrem Buch „Wenn nicht wir, wer dann?“ beschreiben Sie, was Humanität Ihrer Meinung nach bedeutet: „Alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Menschen nicht sterben zu lassen, alle politisch verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren, um Menschenleben zu retten.“ Denn dafür seien sie da, die deutsche Marine und die Außenpolitik. Warum glauben Sie, passiert nichts?
Das künstlerische Medium namens „Politik“ schwelgt in einem Völlegefühl hypnotischer Überforderung. Sie können diese Entgleisung am besten mit Frank Nullmeier erklären: es spielt überhaupt keine Rolle, ob unsere Gesellschaft sich an Kapazitätsgrenzen zerschlägt, es reicht aus, dass die Politiker das glauben. Nullmeier nannte das „Sachzwanglogiken“. Die Politiker glauben sich in Sachzwängen gefangen. Und dann hypnotisieren sie sich und ihre Gesellschaften selbst davon, bis wirklich keiner mehr kann. Wie viele Talkshows gab es in den letzten sechs Monaten zum Thema „Flüchtlinge“. Wir können das auch nicht mehr hören. Der gesellschaftliche Diskurs verläuft derartig eindeutig, dass man ihn nur noch von Tigern zerfleischen lassen will. Momentan lautet der eingebildete Sachzwang „Überforderung“. Wir sind die viertreichste Nation der Erde und wir tun so gut wie nichts für Flüchtlinge. Aber nach offizieller Narration hat sich die Bundesrepublik im vergangenen Jahr übernommen. Es kommt darauf an zu erkennen, dass das Streben nach Humanität der bestimmende Faktor in uns Menschen ist. Das ist eigentlich der einzige Sachzwang, den uns die römischen Götter aufgezwungen haben.

Was fordern Sie von der Gesellschaft? Ihr Buch soll sich „an all jene richten, die glauben, in dieser Welt nichts ausrichten zu können.“ Was genau kann jemand ausrichten, um das weitere Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer zu stoppen?
Die Botschaft von "Flüchtlinge fressen" ist denkbar einfach: wir sind in der Lage, das Massensterben im Mittelmeer jederzeit sofort zu stoppen. Mit der Streichung eines einzigen Absatzes im Aufenthaltsgesetz (§ 63 Abs. 3) verhindern wir alle zukünftigen Opfer im Mittelmeer. Die Menschen, die an der libyschen Küste von unseren Gesetzen ertränkt werden, müssen uns nur ebenso viel wert sein wie die Menschen, für die in einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung mal eben das Sexualstrafrecht revidiert wurde. Wir können genauso schnell und einfach das tödlichste Gesetz im Namen der abendländischen Humanität aus der Welt schaffen. Wir werden nicht aufhören zu glauben, dass das die Mehrheit der Bevölkerung will. Dieser Makel ist da. Dieser Makel wird von uns allen geduldet. Und nach unserer Aktion wird weiten Teilen der Öffentlichkeit auch bewusst, dass ein Gesetz für die Toten verantwortlich ist.

„Was immer andere Menschen tun – sie tun es uns an. Das Ergebnis ist die paradigmatische Sicht eines Opfers. Jede Beziehung verwandelt sich in eine Beziehung zu Tätern“ – das schreiben auch Sie in Ihrem Buch. Wie kann man Leuten entgegnen, die sagen, die Flüchtlinge tun uns ihr Leid an, sie machen uns zu Tätern, obwohl uns das gar nichts angeht?
Unser Pazifismus, unsere Liebe zum Frieden hat dafür gesorgt, dass Assad große Teile seiner Bevölkerung niedermorden konnte. Er machte sogar von Gas Gebrauch. Aber das war uns nicht so wichtig wie das, was Sie vorhin als display der eigenen Tugendhaftigkeit bezeichnet haben. Viele Menschen wagten die Flucht über das offene Meer in Schlauchbooten. Die Behauptung, Flüchtlinge täten uns ihr Leid an, während wir militärisch und gesetzlich alles so organisiert haben, dass diese Menschen vor unseren Augen ertrinken müssen, ist blanker Sophismus. Das ist die alte ungute Denktradition französischer Philosophen, die ein Grundgefühl verbreitete, das viele Menschen ereilt, die tatsächlich in die schwankenden Schlauchboote an der libyschen Küste einsteigen müssen: dass ihr Leben nichts wert ist, während am Flughafen nebenan sogar Nagelfeilen aus dem Verkehr gezogen werden. Ich werde mich immer gegen die Zauberstücke wehren, politische Tatsachen in ethische Richtlinien zu verwandeln. Der Satz nach dem zitierten lautet denn auch: „Ich möchte eine Alternative zu diesem Bild anbieten. Sie basiert maßgeblich auf der Feststellung, dass unsere Seelen haften bleiben, obwohl wir unsere Körper wieder voneinander lösen können.“

Ein Tiger ist am 22.06.2016 in Berlin vor dem Maxim Gorki Theater im Tigergehege mit der Aufschrift "Flüchtlinge Fressen" zu sehen.
Ein Tiger ist am 22.06.2016 in Berlin vor dem Maxim Gorki Theater im Tigergehege mit der Aufschrift "Flüchtlinge Fressen" zu sehen.

© dpa

In Ihrem Buch schreiben Sie weiter, Aktionskunst versuche sich immer an der Rettung der Gesellschaft. „Wir planen politische Unternehmungen, die der Nachwelt als Akte strahlender Schönheit, als Wohltaten der Menschheit erscheinen. Wir versuchen eine Epoche der politischen Schönheit, Größe und Poesie durchzusetzen“. Wie weit sind Sie damit bisher, nachdem „Not und Spiele“ ein breites Medienecho erzeugt hat? Noch mehr Echo in der Presse bekommen allerdings Trump, Frauke Petry und ihre AfD und Co. Steht uns also eher eine Epoche der Rechtspopulisten bevor?
Ich kann mir wenig vorstellen, das so notwendig ist wie die Feststellung, dass es ein gesetzlich verankertes Beförderungsverbot für Kriegsflüchtlinge gibt. Wir unterstellen, dass das weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht bekannt war. Dass aus unserer Versuchsanordnung als Querschläger die Erkenntnis herausgeschleudert wurde, dass es de facto auch noch einen Visumszwang für Kriegsflüchtlinge gibt, hätten sich viele in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können. Dass die Bundesregierung derart sichtbar einen Flug verhindert, der auch noch mit Mitteln der Zivilgesellschaft bezahlt wurde, wird als hässlicher Akt in die Geschichte eingehen. Wir geben aber nicht auf und verklagen jetzt die Bundesregierung. Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass diese Menschen ein Recht hatten, mit dem Flugzeug zu kommen, statt in einem Transporter vielleicht zu ersticken, fällt die europäische Mauer.

Glauben Sie, dass seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ Europa wieder rechter geworden ist? Jedenfalls gibt es die AfD und „Besorgte Bürger“. Der „Kulturpolitik“ der AfD zufolge, würde es das Zentrum für Politische Schönheit wohl nicht geben, da die Partei ja wieder auf altdeutsche Stücke zurückführen will.
Es erinnern sich viel zu wenige an den überfahrenen Schlachtruf der Volksbühne: „Aufklärung durch Verstörung“. Die neue Volksbühne ist seit einiger Zeit am Gorki aufgegangen. Das Haus ist so brechend voll, dass das Publikum zur Vorstellung bis in die Gänge sitzt. Aber Europa ist schon länger rechts. Die Finanzierung von Frontex wurde zu einem Löwenanteil von Deutschland vorangetrieben – seit 2006. Die Mauern in Griechenland und Bulgarien sind populistische Machwerke schlechthin und lange fertig vor 2015.

Vor zwei Jahren haben uns AfD-Mitglieder angekündigt, dass wir die ersten seien, die zur Emigration gezwungen würden, wenn sie an die Macht gelangten. Insofern haben sie recht, die AfD verbindet mit dem ZPS eine innige Liebesbeziehung. Sie sehen aber auch, dass durch die letzte Aktion ein Kern ihrer Politik berührt wird, der den meisten noch nicht bewusst war. Die CSU will die Abschottung, will Mauern, Stacheldraht, Wachtürme. Die AfD will nichts davon. Die AfD will den Nutzmenschen. Sie will die Rückabwicklung der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Sollte sie einst in der Lage sein, die Verfassung zu ändern – und damit ist durchaus zu rechnen –, wird Art. 3 des Grundgesetzes danach lauten: „Jedem das Seine“. Höcke würde das nur verständlicher ausdrücken: „Der Römer, der hatte wenigstens noch seinen Syrer.“

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