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Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer.

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Frankfurter Buchmesse: Brigitte Kronauers "Der Scheik von Aachen": Kappes! Schweinetrost!

Sprache als Heil- und Schmerzmittel: Brigitte Kronauer feiert in ihrem Roman „Der Scheik von Aachen“ die gesellschaftlichen Wonnen von Tratsch und Klatsch.

Lassen sich Schicksale vergleichen? Lassen sie sich abstufen oder gar hierarchisch gegeneinander ausspielen? Kann man jemanden trösten, indem man ihn auf das Leiden anderer hinweist – etwa auf das der Kriegsflüchtlinge unserer Tage? „Schicksal ist Schicksal. Unglück ist Unglück. Der Unterschied liegt nur im Furchtbaren“, sagt die Tante von Anita Jannemann, der Hauptfigur von Brigitte Kronauers Roman. Ihr Sohn Wolfgang, zwei Jahre älter als Anita, stürzte mit elf Jahren von einem Baum und rammte sich ein Fahrtenmesser in den Leib. Das war ausgerechnet am 80. Geburtstag des Großvaters, im heimischen Garten, nur wenige Kilometer vom Ort der Feier entfernt. Die anderen Gäste warteten schon, die ganze Verwandtschaft war versammelt. Und so lange man noch wartete, nichts ahnend zunächst, konnte Anita rasch die Geschichte zu Ende lesen, die sie gerade begonnen hatte: Wilhelm Hauffs Märchen „Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“.

Mehr als dreißig Jahre sind seither vergangen. Anita hat mittlerweile in Zürich gelebt und an der dortigen ETH als „Brückenbauerin“ zwischen den Fachbereichen vermittelt. Nun kehrt sie mit Anfang vierzig in ihre Heimatstadt Aachen zurück. Einzig und allein der Liebe wegen. Allerdings lässt sie der Angebetete namens Mario, ein Österreicher, der als Professor an der Technischen Universität lehrt, bald nach dem Umzug allein. Er ist nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Bergsteiger, in Maßen geübt, durchaus ehrgeizig und von einer gewissen Sammelleidenschaft befallen. Im Kaukasus will er den Elbrus bezwingen, den einzigen Fünftausender Europas.

Die Flamme der Liebe glüht weiter

War der Hallodri den Umzug wert? Das muss sich Anita im Stillen fragen, während sie die Flamme der Liebe am Glühen hält. Das Smartphone, das er ihr vor seiner Abreise geschenkt hat, hütet sie wie ihren Augapfel, am liebsten sieht sie sich die Fotos und Botschaften abends im Bett an. Tagsüber arbeitet sie in einem Antiquitäten-Laden. Am Wochenende besucht sie, da sie sonst nichts zu tun hat, ihre Tante. Die hat nicht nur den Sohn verloren, auch der Mann starb bald. Sie geht auf die achtzig zu, abgemagert von der Matrone zum Leichtgewicht, wird sie von einer polnischen Haushälterin umsorgt, die ganz offensichtlich die Hosen anhat – und sie gelegentlich zum Tanzen auf ihren Armen schwingt.

Wie die Sklaven in Hauffs Märchen den traurigen Scheik mit Geschichten ablenken, um seine Trauer um den entführten Sohn zu mildern, so unterhält auch Anita ihre Tante Emmi mit Anekdoten. Allerdings muss sie darauf achten, den Namen des toten Cousins nicht auszusprechen. Denn das ist verboten. Erst mit der Zeit erfährt sie, dass die Tante selbst den Namen offenbar ständig im Munde führt. Zumindest beklagt sich darüber die Haushälterin. Ihre Arbeitgeberin nehme nur das eigene Leid zur Kenntnis, meint Frau Bartosz, nicht aber das ihrer Angestellten. Die seelisch Angeschlagene bei Laune zu halten, sei anstrengend. Dringend brauche sie Entlastung. Mit allerlei Tricks, mal serviert sie gekauften statt selbstgebackenen Kuchen, mal prustet sie wie ein Walross außer Atem, erreicht sie, was sie möchte: Sie bekommt eine Putzfrau, die nur Polnisch kann und sie „Chefin“ nennt – was für ein Triumph!

Höchst amüsant schildert Brigitte Kronauer die weiblichen Verhaltensformen und Gesprächsstrategien. Wenn Anita erzählt, feuert sie sich selbst manchmal an, sie genießt ihre Übertreibungen und ermuntert sich zu kleinen Bösartigkeiten – erst recht, als auch noch ihre beiden anderen Tanten, vergangenheitsselig die eine, zwangsoptimistisch die andere, den Reigen erweitern. Herrlich, wenn Frau Bartosz mit ihrem Smartphone protzt, wischend und wedelnd nicht nur ihre Familie und die Heimat vorführt, Vorträge über kulturelle Besonderheiten hält und betont, wie wichtig es sei, mit der Technik Schritt zu halten.

Menschenkenntnis, Typen-Genauigkeit und Kulturkritik gehen Hand in Hand in diesem elften Roman von Brigitte Kronauer. Das ist immer so bei der vielleicht bedeutendsten deutschen Schriftstellerin der Gegenwart, die seit Jahren unbeeindruckt von Moden ihren Kurs hält. So locker allerdings wie in „Der Scheik von Aachen“ wirkte sie selten in der großen Form. Vom Gouvernantenton darf man sich nicht täuschen lassen. Dieser drängende, die Figuren geradezu vor sich herschiebende Ton wirkt irritierend. Je mehr Figuren aufs Spielfeld kommen, desto deutlicher aber wird seine Funktion. Jede Figur soll uns – legendengleich – in der Klarheit ihres Umrisses vor Augen stehen: der Antiquitätenhändler Herr Marzahn, der den Zweifel für „die Königstugend kultureller Intelligenz“ hält; der verarmte Architekt Herr Brammertz, einst heimlicher Geliebter der Tante, nun von ihren Schwestern und der Haushälterin beargwöhnter Müßiggänger, der sie erneut umwirbt; sein entfernter Neffe Konrad, der Anita zunächst nur seine Schulter zum Anlehnen leiht, sie dann aber davon überzeugen will, mit ihm ein Heimatmuseum zu leiten.

Zuhören ohne billigen Trost

Was man mit Sprache im Guten wie im Schlechten bewirken kann, davon erzählt Brigitte Kronauer mit großer Lust. Wie „Gewäsch und Gewimmel“ feiert „Der Scheik von Aachen“ Tratsch und Klatsch als soziales Bindemittel. Sprache kann Heil- und Schmerzmittel sein. Sie kann aber auch zu fatalen Handlungen führen. Beim Tod Wolfgangs waren offenbar verbale Provokationen im Spiel, womöglich hat Anita auch ihren Mario unwillentlich in die Berge getrieben.

Am wichtigsten aber ist das Zuhören, ohne billigen Trost, ohne Relativierung oder Nivellierung. Tante Emmi formuliert es so: „Wer hört schon zu, wenn man von seinem Kummer spricht und sagt nicht gleich zur Ablenkung: ,Du, das hatte ich auch mal!’ ,Du, das geht vorbei!’ ’Bedenken Sie, Frau Geidel, was andere zu leiden haben in Afrika und Indien!’ Solchen Kappes kriegt man zu hören. Toller Trost! Misttrost, Schweinetrost. Die sollen sich ihr ewiges Afrika und Indien von mir aus in den Hintern stecken.“

„Der Scheik von Aachen“ erzählt von den Kräften des Überkommenen, die im Windschatten der Globalisierung überdauern, von den über Jahrhunderte eingeübten Praktiken, mit denen sich Menschen ihr Leben zurechtlegen und sich auf seine große Verheißung und seine größte Bedrohung beziehen: auf die Liebe und den Tod. Neben all der Zeitnot, die den in Arbeitsprozesse eingebundenen Gegenwartsmenschen quält, behauptet der Roman die Besonderheit einer Lebensform, in der Zeit im Überfluss vorhanden ist. Alte, Wartende, Trauernde verbünden sich zu einem Reigen alltäglicher Schicksale, die nicht durch Exotik bestechen, sondern von sich aus zum Erzählen drängen. Man kann das durchaus konservativ nennen – im Sinne eines Odo Marquard, der die Bedeutung des Erzählens als Kompensation von Modernisierungsschäden erkannt hat.

Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 399 Seiten, 22,95 €.

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