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Gedenken. Der ehemalige Präsident Frankreichs Francois Hollande bei einer Zeremonie zu Ehren der Opfer des Zweiten Weltkriegs 2016.

© dpa / picture-alliance / Christophe Petit Tesson

Frankreich-Buch von Wolfgang Matz: Kampf der Ideologien

Europäische Fragen und innerfranzösische Konflikte: Wolfgang Matz' Literaturgeschichte über Frankreich zwischen den Weltkriegen.

Sein Name könnte aus Prousts „Welt der Guermantes“ stammen: Pierre Eugène Drieu la Rochelle. Geboren 1893, verbrachte er viereinhalb Jahre in den Schützengräben vor Verdun, publizierte Romane und Essays, wurde einer der führenden Pariser Intellektuellen, dazu Dandy, Faschist, Antisemit, Kollaborateur. Mitte März 1945, als die Niederlage der Deutschen nahte, drehte er den Gashahn auf – aus vielerlei Gründen, unter denen Reue vielleicht der geringste war. Sein bekanntester Roman heißt „Das Irrlicht“ (meisterhaft verfilmt von Louis Malle), und ein Irrlicht war der Autor selbst, immer in der Krise, schwankend, auf der Suche nach einer Wahrheit, die als Leitfaden für Frankreichs und Europas Zukunft taugen würde.

Dieser rätselhafte, schwer zu fassende Drieu (und nicht etwa der Schreihals Céline oder der stählerne Kommunist Aragon) verkörpert für Wolfgang Matz die Traumata und Widersprüche einer ganzen Generation. Der Erste Weltkrieg kostete sie die Jugend; als er endlich beendet war, versuchte sie zu klären, was er dem Einzelnen und der Nation angetan hatte. Zwar gehörte Frankreich zu den Siegern, aber wo blieb der Triumph? Glich dieser Sieg nicht eher einer Niederlage? Und welche Zukunft sollte Europa ansteuern? Kommunismus, Kapitalismus, Faschismus, Pazifismus boten Visionen an, die von ihren Anhängern mit aller Schärfe verteidigt wurden, während ein neuer Krieg Tag für Tag näher rückte. „Frankreich zwischen den Kriegen, was für ein Tollhaus!“, schrieb Drieus Freund Jean Paulhan in seinem Nachruf, der bezeichnenderweise erst 1962 erschien.

Trennungslinien zwischen Stadt und Land

Hätte es sich nur um ein Tollhaus gehandelt, ginge es uns wenig an. Doch der Kampf der Ideologien, so die These von Matz, mischte sich mit einem innerfranzösischen Konflikt, der bereits die Revolution von 1789 geprägt hatte und hundert Jahre später in der Dreyfus-Affäre kulminierte: auf der einen Seite drang das laizistische, städtische, republikanische Frankreich auf Veränderung, auf der anderen Seite beharrte die ländliche, katholische, national gesonnene France profonde auf Traditionen und Hierarchien. Die Trennungslinien teilen das Land bis heute und bleiben scharf. Machtverteilung und Verfassung wechseln, das Herkunftsmilieu jedoch bestimmt den Einzelnen selbst in der Auflehnung.

„Zwischen Literatur und Ideologie“, wie der Untertitel des Buches lautet, ergreifen die Schriftsteller Partei, fechten ihre Kämpfe in Zeitungen und Zeitschriften aus, je nach Temperament mit Florett oder Säbel, und verweben die individuellen Überzeugungen in ihre Romane. Komplizierte Sachverhalte entstehen: Der moralisch diskreditierte Faschist Céline schreibt mit „Reise ans Ende der Nacht“ eine schonungslose Bestandsaufnahme des jungen 20. Jahrhunderts, ein wütendes Gebell, immer noch beeindruckend, während der edelmütige Romanzyklus „Jean Christophe“ des Nobelpreisträgers Romain Rolland ins Vergessen sinkt.

Ein weites Spektrum persönlicher Überzeugungen

Der Surrealist Louis Aragon bleibt über Jahrzehnte eine Pariser Instanz, obwohl er den Stalinismus noch verteidigt, als er weiß, was in den Gulags geschieht - „der krasseste Fall einer objektiven Verlogenheit“, urteilt Matz. Der Katholik Georges Bernanos emigriert nach Südamerika, der Pazifist Jean Giono bleibt in der Provence, während Drieu, der Frauenheld, die Pariser Nachtlokale frequentiert und seine Hoffnung auf ein Europa unter deutscher Hegemonie setzt. Und das sind nur einige Namen, es schreiben und diskutieren Valéry, Gide, Claudel, Malraux, Breton, Gracq und viele andere, die Fülle ist atemberaubend.

Was Deutschland schon 1933 verlor, bewahrte sich Frankreich bis zur Okkupation 1940: die Freiheit der intellektuellen Auseinandersetzung. Zwar verbot auch der französische Faschismus bzw. Kommunismus den Zweifel und ließ sich Blick und Grundsätze durch Deutschland bzw. die Sowjetunion vorschreiben, doch bildeten die Totalitarismen nur die Außenposten der widerstreitenden Meinungen. Zwischen ihnen war Platz für ein weites Spektrum persönlicher Überzeugungen: Wer sich einmischen wollte, tat es und durfte seine Auffassungen sogar ändern, ohne zerstampft zu werden.

Matz hat Mut, ist nüchtern und glaubwürdig

Diese Unbefangenheit, trotz Getöse und Pathos, besitzt Wolfgang Matz ebenfalls. Klare Worte, differenzierte Analysen und vor allem: keine Schere im Kopf. Matz sucht nach Gründen für die unterschiedlichen Parteinahmen, die individuellen Nuancen, sein Interesse gilt der Untrennbarkeit von Mensch und Situation. Durch den konzentrierten Text blitzt die Spannung, vor allem weil dem Autor jede Beflissenheit fehlt, sich als korrekt Denkender zu beweisen. Als deutscher Romanist über den französischen Antisemitismus zu schreiben oder den Mythos der Résistance in seiner Funktion zu definieren, ist ein Gang durch hochsensibles Gelände. Matz hat Mut, ist nüchtern, genau und glaubwürdig, das knappe Panorama ist glänzend formuliert. „Es gibt immer ein Frankreich, das man lieben muss“, zitiert er Julien Green und fügt hinzu: „dieses Buch ist eine Liebeserklärung.“

Einmal allerdings bedauert man seine Kürze. Über den Kongress europäischer Schriftsteller, der 1941, mitten im Krieg, von den Nationalsozialisten im deutschen Kulturheiligtum Weimar ausgerichtet wurde, erführe man gern mehr. Sieben Autoren aus dem besetzten Frankreich, darunter Drieu la Rochelle,reisten als Luxustouristen quer durch Deutschland und sahen, was sie sehen sollten, bis auf eine dramatische Ausnahme. Sprach einer von ihnen in Weimar? Oder keiner und warum nicht? Matz konzentriert sich auf ihre Reiseberichte, die mit Rücksicht auf die herrschende Zensur erwartbar kritiklos ausfielen. Aus dem Untergrund richteten drei Résistance-Kämpfer in ein paar hektografierten Blättern einen Offenen Brief an die Kollaborateure: „Goebbels in Weimar, das ist Mephisto, der in der Rolle von Faust schwadroniert… Sie selbst haben sich für diese Haltung entschieden, kein Schriftsteller mehr zu sein, kein Franzose.“ Wenig später werden Jacques Salomon, Georges Politzer und Jacques Decour verhaftet und hingerichtet.

Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie. Wallstein, Göttingen 2017. 240 Seiten, 22 €.

Gisela Trahms

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