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Unordnung ist das halbe Leben. Friederike Mayröcker in Wien.

© picture alliance / HANS KLAUS TE

Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag: Die schöne Wirrnis dieser Welt

Risse, Fetzen und die Euphorie des Schreibens: Die österreichische Dichterin Friederike Mayröcker feiert 90. Geburtstag.

Friederike Mayröcker zu lesen, ist ein wenig, als hörte man Free Jazz. Feste Themen, gar eine klare Geschichte, gibt es in ihren Figurationen nicht. Eher sind es lose Ideen und Sprachformen, die sie ein ums andere Mal streift und in immer neue Variationen überführt. Da mag einem beim Lesen bisweilen der Kopf rauschen, dann wieder fangen die Wörter an zu trippeln, als hätte man Gänsefüßchen auf der Zunge oder als spürte man plötzlich das „Eintreten in 1 Bewusztseinsleere“.

Eine wildernde Muse der Sprache war Friederike Mayröcker schon immer. Ihre „äuszerste Phantasie“ speist sich aus einem ganz und gar eigenen Sprach- und Weltbewusstsein, das von der Euphorie des Schreibens ebenso weiß wie vom „gerissenen Faden der / modernen Narration“. Und diese Rede von den Rissen und Fetzen ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn meist sitzt Friederike Mayröcker in ihrer Wohnung, jener so oft beschriebenen Schreibhöhle mit den Bücherstapeln und Manuskripten, den Schachteln und Plastikkörbchen voller Zettel. Vor sich auf dem Tisch die Hermes Baby, ihre heiß geliebte Schreibmaschine. „Ich bin verheiratet mit meiner Hermes Baby – ich knie’ mich so hinein wie der Glenn Gould in sein Klavier“, hat sie einmal verraten.

Auf den ersten Blick wirken viele ihrer Texte, die Prosastücke zumal, wie Mitschriften des eigenen Lebens. Wahrnehmungsspuren und körperliche Regungen, Erinnerungen und kleine Gedanken verschlingen sich hier kaum merklich, bis die Bewegung plötzlich abbricht, manchmal mitten im Satz. Zugleich aber wird schnell deutlich, dass nicht nur das Stimmengewirr der Texte, sondern auch all das, was wie konkret erfahrene Realität aussieht, immer schon als künstlerisches Bild angelegt ist.

Ihr Leben ist der Echoraum ihres Schreibens

Trotzdem ist das eigene Leben der Echoraum, aus dem sie ihren Schreibstoff gewinnt. Die Kindheitsjahre in Wien, in der sie schon früh ein wehmütiges Schreibgefühl verspürte. Die enge Beziehung zu ihrer Mutter, der sie bis zuletzt vorgelesen hat. Und erst recht die Liebes- und Schreibliaison mit dem Dichter Ernst Jandl. Die Idee eines festen Berufes freilich gab sie schnell auf. Nach ihrem Englischstudium unterrichtete sie an einer Wiener Hauptschule, ließ sich aber 1969 beurlauben. Fortan wollte sie nur noch schreiben.

Der Schwarmgesang ihrer „magischen Blätter“ lebt von einem tastenden Gestus. In ihrem jüngsten Buch „cahier“ (Suhrkamp, 192 Seiten, 19,95 €) hat sie diese Suchbewegung noch einmal verfeinert. Ein Heft mit Skizzen und Fingerübungen, ließe sich vermuten, eine Art Vorschule für das nächste große Stück. Doch Mayröckers „cahier“ scheint nicht weniger komponiert als ihre Gedichte oder als der gewaltige, romanartige Text „brütt“ aus dem Jahr 1998. Es ist die Kunst der Assoziation, die all die Stoffe zusammenbindet.

Von Hölderlin bis Jacques Derrida

Das Wort „kauern“ kann hier zum Bild einer „Häsin“ führen, der Gedanke an das „Herz Jesu“ zur Idee einer tatsächlichen Herzuntersuchung. So wachsen die verschiedenen Schichten ineinander: Erinnerungen an Reisen oder an die Kindheit, Traumbilder und Überlegungen zum Schreiben. Dazwischen finden sich Zeichnungen und Zitate aus Lektüren, die von Hölderlin-Gedichten bis zum geliebten Jacques Derrida reichen. Die „schöne Wirrnis dieser Welt“ fängt Mayröcker in zwei metaphorischen Sphären ein. Hier ist es die Sprachwelt der Pflanzen, in der die Texte sich in eigene Gewächse verwandeln können, in „rote Seelchen von Mohn“ oder in „verschleierte Ästchen“. Dort sind es Bilder des Zerfließens und Schmelzens, die nicht nur den Schnee auflösen, sondern auch das Gemüt und die Gedanken in Fluss versetzen. So entsteht ein Gefüge von Variationen, ein Wechselspiel aus Stau und Bewegung, das mitunter sogar das „Brausen der Landschaft“ spürbar macht.

Kein Wunder, dass ein solch bewegliches Schreiben von Anfang an Gehör fand. „Gut wie Mayröcker“ galt schon in den fünfziger Jahren als Lob in den Kreisen der österreichischen Avantgarde. In der neuesten Ausgabe der Grazer Zeitschrift „manuskripte“ kann man nachlesen, wie groß die Bewunderung für Mayröckers Sprachkunst nach wie vor ist. Elfriede Czurda träumt von einem Buchstaben, „in dem alle punkte der welt enthalten“ sind. Oswald Egger schenkt Mayröcker „Vergißmeinnichts-Kissen und knopfgelbe Violen“, während Péter Esterházy der „mayröckerschönheit“ nachtastet. Noch schöner als die Anverwandlungen ihres Stils sind drei neue Gedichte von Mayröcker selbst. Mit „Splitterchen auf dem Kellerboden“ und einer halben Aprikose auf der Zunge versucht sie nicht weniger als eine „Einübung von Lust“.

All diese „Ellipsen der Sprache“ sind jedoch kein Selbstzweck. Am Rand der Sätze schimmert so etwas wie eine utopische Idee auf. Es ist die wundersame Verwandlung der Welt durch das Schreiben, der alte Traum, mit der Literatur das Leben verändern zu können. Nur verhält es sich bei Friederike Mayröcker geradezu umgekehrt: Erst im Schreiben findet das vermeintliche Leben zu sich selbst: „keine Aufregungen, keine Veränderungen, der Stern im Auge der Nachtigall“. Möge der ruhige Stern ihrer Sätze noch lange am Himmel der Literatur leuchten.

Nico Bleutge

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