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Striesow

© ddp

Striesow und Lensing: Genial, aber langsam

Fast hätten die Schauspieler um die Rollen gewürfelt: Warum sich Stars wie Devid Striesow mit den eigensinnigen Theatermachern von T 1 einlassen.

Ein doppeltes Vergnügen: Wenn am Freitagabend in den Sophiensälen die Premiere von Tschechows "Onkel Wanja" stattfindet, werden die Zuschauer nicht nur einen großartig frustrierten Josef Ostendorf in der Onkelrolle sowie einen äußerst vitalen Devid Striesow erleben, der sich als alkoholsüchtiger Mediziner auch bei Niedrigsttemperaturen vollständig mit einem Wasserschlauch abspritzt. Vor allem werden sie das Resultat von stolzen siebenhundertdreißig Tagen Theaterarbeit erleben: Zwei Jahre haben Thorsten Lensing, der Wiederentdecker der Langsamkeit in der freien Theaterszene, und sein Co-Regisseur und Dramaturg Jan Hein am "Wanja" gearbeitet.

Dass Regisseure einen Stoff jahrelang mit sich herumtragen, ist keine Seltenheit. Aber in aller Regel inszenieren sie in der Zwischenzeit hier einen Shakespeare, dort einen Lessing und da einen Marivaux. Nicht so Lensing. "Ich habe nur Vertrauen in Sachen, die über eine sehr lange Zeit gewachsen sind", sagt der 39-Jährige, der sich seit vierzehn Jahren den Luxus leistet, nur alle 24 bis 36 Monate eine Premiere zu geben.

Wie aber hat man sich das konkret vorzustellen, wenn ein "Wanja" über zwei Jahre hinweg wächst? Für Lensing sind schon solche Fragen viel zu stark vom grassierenden Effizienzdenken infiziert. Das könne man so nicht sagen, murmelt er nach einer langen Schweigepause. "Ich mache ja deshalb nur alle zwei Jahre eine Inszenierung, weil ich mich instinktiv gegen das Umsetzen sperre. Und diese Gärungsprozesse, die sich vollziehen, indem man sich weigert, sofort etwas zu verstehen und umzusetzen, sind ein sehr fruchtbarer Humus für meine Arbeit."

Gärungsprozesse leisten sich in unserer Schnellschuss-Gesellschaft wenige - für viele stände bei allzu ausdauernder Humusbildung die berufliche Existenz auf dem Spiel. Was Wunder, dass Lensing mit seinem Theater T1 innerhalb der freien Theaterszene - er fände diese Formulierung jetzt sicher unpassend - durch zwei Alleinstellungsmerkmale besticht: Er entzieht sich nicht nur weitgehend dem zeit- und finanzökonomischen Druck, sein intensives Schauspielertheater stellt bei einfachsten Mitteln in zumeist kargen Räumen auch ästhetisch das denkbar größte Kontrastprogramm zur projekt- und performanceorientierten freien Szene dar.

Auf bescheidener Ebene, sagt Lensing, der sich selbst als "nicht kompromissfähig" bezeichnet, könne er von seiner Arbeit leben. Das heißt im Klartext: Seine Inszenierungen sind so erfolgreich, dass er sich seinen hohen Autonomiegrad auch potenten Koproduzenten gegenüber leisten kann. Ein verordnetes Ensemble wäre für Lensing genauso undenkbar wie vorgeschriebene Probenzeiten nach Stadt- und Staatstheatermanier: "Ich kann niemanden auf der Bühne stehen haben, den ich da nicht will!" Und wenn bei Lensing und Hein geprobt wird, hat selbst ein vielbeschäftigter Schauspieler wie Josef Ostendorf sieben Wochen lang keine anderen Verpflichtungen. Devid Striesow, der im gerade Oscar-prämierten Film "Die Fälscher" eine Hauptrolle spielte, stand in einer Voraufführung des "Wanja" in Münster auf der Bühne, während seine Kollegen in Hollywood ihren Sieg feierten.

Anders wäre das, was Lensing und Hein umtreibt, wohl auch kaum zu leisten. Sie beschreiben ihr Konzept gern als ein "Freischießen des Theaters", eine Befreiung von naiver (Ab-)Bildhaftigkeit, falscher Rollenidentifikation oder - zumal beim "Wanja" - naturalistischen und realistischen Missverständnissen. Es geht, mit anderen Worten, um das Ideal, einem Text vorurteilsfrei und ohne Rezeptionslast zu begegnen: Quasi in direkter Gegenbewegung zur gängigen interpretatorischen Aktualisierung versuchen Lensing und Hein, die angestauten Zuschreibungen abzutragen. Nicht fünfmal, nicht zehnmal, sondern "an die sechzig Mal" hätten sie "Onkel Wanja" gelesen, sagt Hein. Eben so lange, bis sich alle vorschnellen Gewissheiten verflüchtigt haben und man möglichst gar nichts mehr weiß. Dann schreibt Lensing den Text, bevor er ihn inszeniert, erst einmal vollständig handschriftlich ab: Gärungsstufe eins sozusagen.

Logisch, dass Lensing und Hein sich strikt weigern, über etwas Handfestes wie "Konzepte" zu reden. Wer mit ihnen arbeiten will - ob als Schauspieler oder als potenzieller Produktionspartner - bekommt statt eines Konzeptpapiers eine Einladung zum gemeinsamen Textlesen in die Hand gedrückt. Neulich saß zum Beispiel Brigitte Fürle, die künstlerische Leiterin der "spielzeiteuropa", mit dem Regieduo im Lesekreis. Die nächste T1-Produktion - die Uraufführung "Der Lauf zum Meer" nach Texten des amerikanischen Lyrikers William Carlos Williams - findet 2009 bei den Berliner Festspielen statt.

Kurzum: Mit interpretatorischen Fragen zur Inszenierung muss man sich schon an Devid Striesow wenden. Zum Beispiel mit der Frage, ob der von ihm verkörperte Arzt eigentlich noch an all die grünen Ideale glaubt, die er im Stück referiert. Da lacht Striesow nur: "Ich glaube schon, dass der daran glaubt", sagt er. Mit Sicherheit wisse er nur, dass er im zweiten Akt "unglaublich besoffen" sein müsse. Fast wären die Zuschauer übrigens auch noch in den Genuss gekommen, Striesow nicht nur als trunksüchtigen Mediziner, sondern auch als Professorengattin Jelena oder als Kinderfrau Njanja zu erleben: Ursprünglich wollten Lensing und Hein, dass jeder Darsteller jede Rolle beherrscht und allabendlich vor den Aufführungen neu ausgewürfelt wird, wer wen spielt. Dass die Schauspieler sich nicht hinter ihren Figuren verstecken und über ihre Rollen hinaus ein Gesamtverständnis für den Abend mitbringen, gehört zu Lensings Theatermodell. Leider fiel die Würfelidee aber aufgrund der erheblichen Textmenge wieder unter den Tisch.

Nicht nur Striesow, den Hein aus anderen Koproduktionen kennt und mit dem das Regieduo bereits eine Walser-Lesung realisierte, scheint die Arbeit mit T1 zu schätzen: Immer wieder gewinnen Hein und Lensing Koryphäen, vor denen nicht nur freie Szene-Regisseure Kniefälle machen würden. So spielte etwa Matthias Habich in ihrem "König Lear" die Titelrolle und Henning Rischbieter, Mitbegründer der Fachzeitschrift "Theater heute", den Gloster.

Hochkarätige Mitspieler zu gewinnen, sagt Lensing selbstbewusst, sei nicht das primäre Problem. Er sei ja jedes Mal glücklich, wenn er überhaupt endlich wüsste, wen er für eine Rolle besetzen wolle. Lensing beobachtet und überlegt da oft monate-, wenn nicht jahrelang. Die Auserwählten zum Mitmachen zu überreden, sei dann vergleichsweise einfach. Lensings Taktik? Ganz einfach: "Ich nehme keine Absagen entgegen."

Premiere 21. März, weitere Vorstellungen 22.-23. sowie 27.-30. 3., jeweils 20 Uhr

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