zum Hauptinhalt

Hans Jürgen Syberberg: Genie und Wohnsinn

Hans Jürgen Syberberg, bald 75 und Meister des monumentalen Films, versucht, seine alte Heimat wiederzufinden. In einem winzigen Dorf im Haus der Eltern, das vier Kameras unentwegt beobachten. Ab Freitag wird das "Nossendorf-Projekt" in Berlin präsentiert

Nein, das ist kein Überwachungsfall, kein Sicherheitsfimmel. Wir sitzen in einem Haus, in dem seit zwei Jahren Tag und Nacht vier Kameras laufen. Zwei sind ins Hausinnere gerichtet, zwei nach draußen, in die Wiesen und Weiten bis zum Horizont. Es ist ein wohl einzigartiger Fall von Darstellung. Von Selbstdarstellung und Selbstversicherung. Im wahren Sinne des Wortes auch: eine Heimsuchung.

Das Haus steht in Nossendorf, einem dahingestreuten Nest mit ein paar hundert Bewohnern im hohen, tiefen Nordosten des Landes. Eine knappe Stunde von Greifswald, weg vom Meer, weg von allem. Vier Kameras, 24 Stunden lang in der Pampa von Mecklenburg-Vorpommern? Wer hier nur an Hightech am Rande denkt, der müsste wohl frösteln und staunen in diesen sehr herbstlichen Tagen. Denn das Haus hat keine Zentralheizung, es zieht durch Fenster und Türen, die Zimmer, nicht alle, werden von Eisenöfen mit Holz gewärmt. So gut es geht. Aber das Haus hat jeden Tag seine dreitausend Besucher.

Es ist das neue alte Heim des Filmregisseurs Hans Jürgen Syberberg. In einer Stube im ersten Stock wurde er geboren, in vier Wochen ist das nun 75 Jahre her. Die dreitausend Besuche sind freilich virtuell – der Künstler und Hausherr stellt die alle zwanzig Minuten aktualisierten Bilder aus Nossendorf ins Netz. Die Website www.syberberg.de, bei der man, begleitet von Erinnerungen auch an Syberbergs Filme über den Märchenkönig Ludwig II., über Wagners „Parsifal“ und Wagners Winifred, über Hitler und Karl May, sogleich in Nossendorf landet, hat inzwischen Kultstatus. Es ist die Dokumentation eines Abenteuers aus den wilden Jahren der Nachwendezeit, voll persönlicher Besessenheit, voller Wunder und einem Stück deutsch-deutscher Dorf- und Weltgeschichte.

Kaum war die Mauer gefallen, ist Syberberg 1989 erstmals an die Stätte seiner Kindheit zurückgekehrt. Und ließ alle Hoffnung fahren. Vor zehn Jahren dann, nach einer jähen Wendung, hatte Syberbergs so fantastisch-listige wie kämpferisch zähe Rückeroberung und Restaurierung des 1947 unter russischer Besatzung enteigneten Landguts begonnen. In der Realität und im Netz. „Ich hatte keinen Sack Geld, meine Laufbahn als Filmemacher war eigentlich zu Ende“, erzählt Syberberg schon im Auto auf der zwanzigminütigen Fahrt vom Bahnhof der Kreisstadt Demmin nach Nossendorf. „Es war einmal mein Ausgangsort, aber 2000, als alles schon unwiederbringlich verwüstet schien, war ich in fremdes, auch feindliches Land geraten, und meine einzigen Waffen waren Erinnerungen, Wünsche, Sturheit und die Idee einer neuen Verbindung von Film und Leben.“

Für jeden Tag des sonderbaren Kampfes gibt es seitdem eine neue Webtagebuchseite, und 2003 hatte bereits das Pariser Centre Pompidou eine von Syberberg inszenierte Ausstellung „Paris-Nossendorf“ gezeigt. Eine Variation der Vision folgte dann in Wien. Nun zum doppelten Jubiläum – 75. Geburtstag und zehn Jahre am Wiedergeburtsort – wird am Freitagabend im Berliner Film-Museum am Potsdamer Platz Hans Jürgen Syberbergs multimediale Schau „Das Nossendorf-Projekt“ eröffnet, dazu gibt’s ab Ende des Monats eine Syberberg-Retrospektive im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin.

Komm in den totgesagten Park und schau. Der Vers von Stefan George ist Syberbergs geistiger Welt gewiss nicht fern. Einer Welt, die seinen Kritikern zuletzt nur geprägt schien von deutschen Nächten, mystischen Verlusten und einer wagnerisch rauschenden Geschichtsentrücktheit. Doch persönlich hat der vom Wind in der graublonden Mähne verstrubbelte Herr in der Cordsamthose und rustikalen Wolljoppe nichts vom teutonischen Hohepriester. Syberberg war schon immer ein eher sanft auftretender Mann, höflich, leise, auch selbstironisch. Darin steckt sein Geheimnis. Jetzt aber: der Park, der Garten, das Haus!

Auch da ist auf den ersten Blick nichts von Schwere und Bedeutung, nur schwebende schlichte Anmut. Das Tor zur Dorfstraße steht offen, kein Zaun, nur Gras, das die einst gepflasterte Einfahrt überwachsen hat. Syberberg parkt seinen bejahrten Peugeot in der Wiese neben dem in der Herbstsonne heute strahlenden weißen Gutshaus. Ein zweistöckiger klassizistischer Bau im angedeuteten Schinkel-Stil. Trotz des hohen Dachs in der Wirkung eher geduckt, bescheiden, von kleinem Landadel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Kalk sind nur noch Feinspuren der nach 1947 abgeschlagenen oder verwitterten Fassadenprofile zu erkennen. Helga Syberberg, die Frau des Künstlers, eine schön ergraute, energisch charmante Wienerin, steht leicht frierend im Rollkragenpulli auf den Eingangsstufen. Doch das Mittagessen, ihre Quiche, der Rotwein und der selbstgebackene Kuchen, müssen noch warten.

Zuerst stürzt händeschüttelnd und mit einem Schwall von handwerklichen Informationen ein junger Mann auf Syberberg zu. Das ist „Kippe“. So heißt er hier, ein starker Raucher, arbeitslos. Aber ein Arbeiter. Ein unentbehrlicher Helfer. Er zieht Syberberg in die am Rand der Einfahrt gelegene, gleichfalls weiß gestrichene Scheune. Dort lagern Stroh, Holz für die Öfen und Holz zum Bauen, Gartenstühle, ein verstaubtes Klavier, und Kippe macht noch viel mehr Staub, weil er gerade halbe Baumstämme und schweres Bruchholz zersägt. Vor einem riesigen Vorhang, der die Halle unterteilt. Syberberg öffnet ein zweites Scheunentor, und nun erweist sich der graue Stoff als ein veritabler Bühnenprospekt, der in Schwarzweißzeichnung die antiken Motive eines Wandfrieses aus dem untergegangenen Berliner Stadtschloss abbildet.

Im nächsten Jahr soll das als Kulisse dienen, wenn in der Scheune oder im Garten erstmals Konzerte des Musik-Sommerfestivals von Mecklenburg-Vorpommern stattfinden. „Es war meine Kulisse bei der ,Marquise von O.’, sowas darf man nicht wegwerfen“, sagt Syberberg und erinnert an seinen 1989 mit Edith Clever gedrehten Film nach der gleichnamigen Novelle von Heinrich von Kleist. Mit der Schauspielerin Edith Clever, die in den 80er Jahren Syberbergs Muse, Gefährtin und oft heroisch grandiose Protagonistin war, ist er im Dezember 1989 von Berlin auch erstmals wieder nach Nossendorf gefahren. „Ich hätte mich das allein nie getraut, aber sie wollte es unbedingt!“ Im Computer zeigt Syberberg ein Foto davon: Die Clever in langem schwarzem Mantel schreitet durch Pfützen auf ein morbides Anwesen zu, gesäumt von Baracken und schwarzkahlen Baumstrünken – man glaubt, ein Ruß- und Ruinenbild direkt vom Kriegsende zu sehen.

Damals, am Ende der DDR, wohnten acht Familien in dem von einer siechen LPG bewirtschafteten Restanwesen. „Ich konnte und wollte niemanden vertreiben, also gingen wir wieder.“ Gut zehn Jahre später hört Syberberg dann durch Zufall von einem Bekannten, dass das inzwischen nicht mehr bewohnte Haus zum Verkauf stehe.

Tatsächlich verlief im Jahr 2000 eine neue deutsch-deutsche Grenze mitten durchs Nossendorfer Haus. Syberberg: „Es war bizarr. Die eine Hälfte gehörte dem ehemaligen LPG-Vorsitzenden, der heute einer der Immobilienkönige des Landkreises ist. Der wollte 160 000 Mark für seinen Teil. Als Kompensation für die erhoffte Abrissprämie. Das Haus war nämlich schon zum Abbruch freigegeben, und die ließen die Regenrinnen absichtlich nach innen laufen, um alles noch baufälliger zu machen.“ Die andere Haushälfte gehörte der Treuhand. Dort war man überrascht, als in letzter Minute der berühmte Filmemacher auftrat. Und die Ämter nun mit Anzeigen, Skandaldrohungen und seinen tollkühnen Plänen zur „Rekultivierung“ überzog.

Syberberg ließ noch während der Verhandlungen über Nacht die Zugänge des Hauses vermauern, um es vor Vandalismus zu schützen. Und seine Frau Helga erzählt mit einem Wiener Lächeln: „Bevor er überhaupt erreicht hatte, dass das Haus unter Denkmalschutz gestellt wurde, hat er sich die entsprechenden Plaketten besorgt und sie draußen als Schutzschilder angebracht.“ Aber: Was hat er am Ende für das Haus bezahlt?

Nun fährt ein kleines altbübisches Grinsen in des Meisters wettergebräuntes Landlord-Gesicht: „Ich bekam es für null.“ Das war sein Triumph. Aber vor die erste Null kamen alsbald ein paar andere Ziffern. Er musste nicht nur das marode Haus samt eingestürztem Dach renovieren, sondern das bei der entschädigungslosen Bodenreform von 1947 enteignete Land drumherum hinzukaufen. Zuerst einen Hektar, jetzt sind es zwei.

Syberberg stapft voran durch die noch aufgeweichten Wiesen hinter dem Haus: dem einstigen Park. Er erzählt von früheren Wasserläufen, weist auf die neu angepflanzten Büsche, auf alte Linden und eine Gruppe junger Fichten. Die dienen als immergrüner Sichtschutz, denn: „Dahinter beginnt die Hölle.“ Es sind zwei, drei mittelhohe Plattenbauten am Rand eines Felds. Vor dem Horizont stehen auch hellgrau und immerkahl drei tote Ulmen. Wie drei mächtige Gerippe. „Vielleicht eine Mahnung“, sagt Syberberg und will sie nicht fällen.

Rund um das gesamte Grundstück ist aus Findlingsfeldsteinen eine niedrige Mauer gelegt, gesäumt von einem lockeren Gestänge aus aufgesammelten Ästen und Stämmen, wie sonst vor alten Viehkoppeln. „Ich gehe nicht zum Baumarkt. Wir nutzen, was da ist in der Natur, wie vor zweitausend Jahren. Das haben die Leute im Dorf noch nicht ganz vergessen, und ich lerne von ihnen. Ich bin ja nicht mehr Gutsbesitzer, ich baue keine Rüben an und habe keine Kühe und Pferde, sondern bin der Regisseur. Ich inszeniere den Raum, erhalte das Alte, soweit es geht, und lege meine eigenen Wege.“

Sein Weg von Nossendorf in die Welt, führte nach der Enteignung des Vaters, der das Gut 1925 erworben hatte, erst nach Rostock, dann 1953 in den Westen Berlins. Am Berliner Ensemble im Osten drehte der 17-jährige Syberberg mit der Achtmillimeterkamera seines Vaters die ersten Filme von Bertolt Brechts Proben zum „Urfaust“ (heute ein Rarissimum der Filmgeschichte). Viel später und längst in München lebend, wo die Syberbergs noch ein hübsches Haus am Englischen Garten haben und wo das von Frau Helga verwaltete Archiv all seiner Filme liegt, viel später hat er dann mit ingeniös einfachen Mitteln seine vielstündigen Großwerke gedreht.

Sein „Ludwig II.“ hatte als „Requiem für einen jungfräulichen König“ 1972 den viel teureren, eleganteren Ludwig- Film von Visconti an Einfallsreichtum und Aberwitz bei weitem übertroffen. Eine gewisse Übertreibung war hingegen das berühmte Diktum von Susan Sontag in der „New York Times“, dass Syberbergs vierteiliger „Hitler, ein Film aus Deutschland“ den Gipfel der gesamten Filmweltgeschichte bedeute. Bei der eher linken deutschen Filmkritik war da schon mancher blind für das Besondere an dem konservativen Anarchismus, der wohl den Schlüssel birgt zum Syberbergschen Wesen. Ein Berserker und Bürger, überschwänglich und erdgebunden.

Heute sammelt er in der Scheune, auf der ein liebevoll vorbereitetes Nest das noch fehlende Storchenpaar anlocken soll, Biberschwänze. Das sind die alten Ziegel, die viel teurer sind als die plastikhaft gleichförmigen Industrieziegel, die all die schön restaurierten Altstädte Ostdeutschlands von oben nur wie ein rotes Legoland aussehen lassen. Er reicht stolz eine glänzend gelbe Quitte vom selbstgepflanzten Baum, während die Hausfrau ironisch seufzt: „Das bedeutet für mich: Quittengelee, eingelegte Quitten, Quittenbrot, Quittenkuchen!“

Syberberg hat die LPG-Betonbaracken ums Haus abreißen lassen, ebenso den ehemaligen „Konsum“ vor der Einfahrt. Dort säumen jetzt frisch aufgemauerte Backsteinsäulen das Grundstück, und jeder, der Syberberg beim Restaurieren unterstützt, bekommt eine kleine Messingplakette mit Namen an eine der Säulen. Der erste war der Münchner Filmproduzent Bernd Eichinger („Mein alter Kumpel, er hat den ,Hitler’, ,Parsifal’ und ,Karl May’ produziert“). Den Abriss der DDR-Reste hat unter anderem eine dörfliche Jugendbande besorgt. „Die Assis und Hartzis hausten und randalierten in den Baracken und attackierten auch mit Einbrüchen und Kokeleien das Haus. Ich wusste, mit denen als Feinde hätte ich keine Chance gehabt.“ Syberberg drückte ihnen Kettensägen und Betonbohrer in die Hand und sagte ihnen, wo’s langgeht und wofür es auch etwas Geld und Bier gab. Da machte die Demontage plötzlich Spaß. Später haben einige von den Jungs sich auch Syberbergs frühen, von Kleist und ’68 inspirierten Motorrad-Rockerfilm „San Domingo“ angeschaut, mit der Musik der Krautrockband Amon Düül II. Auch das war Fun in der Pampa von Meck-Pomm.

Innen ist das Haus in seiner Mischung aus kargen Zellen mit Kerzenlicht im Oberstock und (jetzt ungeheiztem) Salon, mit Wohn- und Arbeitszimmern, bestückt mit rückimportierten Erbstücken und Trödelmöbeln eine Mischung aus Biedermeier und Bohéme. In Syberbergs Geburtszimmer, in dem er nun schläft, gibt es am Leuchter ein Schwalbennest, und das einfache Holzbett ist die Nachbildung einer Miniaturrequisite, die er einst für seine monumentale Theater- und Film-„Nacht“ mit Hölderlin, Kleist und Edith Clever verwendet hatte – und die ihrerseits die Nachbildung seines verloren gegangenen Nossendorfer Kinderbetts war. Für Syberberg bedeutet das eine Transformation der Realität in die Kunst und zurück ins Leben. Ist ein Zeichen jener Heimsuchung, die Syberbergs (Cyberbergs) Nossendorf als Dauerinszenierung auch zum „global village“ macht.

Gleichzeitig sagt der Mann, der Preußens und sein Arkadien wiederfinden möchte: „Leute, die keinen Ort als Heimat haben, sind langweilig. Globalisierung ist eine Verarmung durch Vielfalt.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false