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Ach wirklich? Plakat zum Comedy-Programm.

© promo

Germanistik-Debatte: Wimperntusche auf Mittelhochdeutsch

Welche Rolle spielt heute die Germanistik? Blogs liefern da ziemlich gegensätzliche Antworten. Eine Kolumne.

Von Gregor Dotzauer

Welche Hoffnungen hatte der Kabarettist Philipp Scharrenberg bei Literaturwissenschaftlern geweckt, als er Ende letzten Jahres versprach: „Germanistik ist heilbar“. Das Plakat seines Soloprogramms war den Umschlägen der gelben Reclam-Heftchen nachgebildet, sodass Betroffene sofort wissen mussten: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Schon Anfang Februar stellte der Journalist Martin Doerry dem Fach im „Spiegel“ indes wieder eine tödliche Diagnose. Schlimmer noch: Er sah es schon zu Lebzeiten in einem Irrelevanz-Nirvana verschwinden, wo es doch gerade heute Experten zur Abwehr von Populismus und rechten Parolen hervorbringen müsse.

Wenn sich darin nur ein kleines Missverständnis offenbarte, so war der Versuch, ausgerechnet den Allesleichtmacher Richard David Precht als Relevanz-Kronzeugen gegen die Verblasenheit der Forschung in Stellung zu bringen, ein kapitaler Irrtum. Trotzdem verletzte der „Spiegel“-Querschläger drei unglücklich zitierte Germanisten, unter ihnen den einflussreichen Albrecht Koschorke, so sehr, dass sie Doerrys mit Empirie angereicherte Lästereien in der „FAZ“ pflichtschuldigst ihre Schuldlosigkeit entgegenhielten. Immerhin: Die rituelle Selbstvergewisserung zeitigte einige bedenkenswerte Beiträge, die in der Historisierung der eigenen Krisenhaftigkeit ihren Anlass weit hinter sich ließen.

Die Gleichzeitigkeit von Extremen

Die Wahrheit liegt wohl nicht in der Mitte, sondern in der Gleichzeitigkeit der Extreme. Unter akademisch bestallten Geisteswissenschaftlern, die privat schon mal eine Zähre über ihr Publikum verdrücken, neigt man mittlerweile zu der Auffassung, dass die germanistische Welt insgesamt zwar nicht dümmer geworden sei, dass sich die Klugheit aber dramatisch anders verteilt. Die Masse der Unverständigen und Unbelesenen wächst, während sich eine schmale Schicht von Überfliegern intelligenter anstellt denn je. Dafür gibt es zwar keine statistischen Daten, aber Anhaltspunkte.

Für den Absturz ins Bodenlose sprechen beispielsweise die YouTube-Videos einer gewissen Maren Vivien aus Freiburg, die man eher in der RTL-Show „Der Bachelor“ als bei einem Germanistik-Bachelor vermuten würde. Neben allerlei Wissenswertem wie „Die beste Mascara“, „10 Hacks gegen die Langeweile“ und einem Uni-Survival-Guide gibt sie auf ihrem Kanal in niederschmetternd gut gelaunten 19:48 Minuten eine Einführung in ihr Studium. Für sie ist schlechterdings alles cool, Kafka und das Mittelhochdeutsche, das Epische und so, und gegen Ende gesteht sie, dass sie sich tatsächlich eine Komplettbox Goethe gekauft habe: „Ich liebe diesen Typen!“

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Am anderen Ende findet sich das Blog des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (www.zflprojekte.de/zfl-blog/). Wo bis vor anderthalb Jahren, als Eva Geulen das Amt der Direktorin von Sigrid Weigel übernahm, etwas zuweilen Geheimlogenhaftes, Theoriereligiöses herrschte, ist nun eine pragmatischere Mentalität eingezogen. Hanna Hamel, Maria Kuberg und Insa Braun, drei Promovendinnen des ZfL, schreiben nicht für eine Ewigkeit, die oft nur Orkus heißt, sondern aus dem Affekt der Debatte heraus: als lange Anmerkung zu einem von Doerry als Aufhänger benutzten Zitat aus Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“, mit dem man es sich nicht zu einfach machen sollte. Als Exkurs zur Relevanz. Und als Plädoyer für einen subjektiveren, essayistischen Zugang zu den Gegenständen der Erkenntnis.

Auch Geulen selbst steuert einen Beitrag bei, der die „polyglotte Lebendigkeit der (National-)Philologien“ feiert und eine Interdisziplinarität, die sich „nur entfalten kann, solange es Disziplinen und die Konkurrenz unter ihnen gibt“. Wer weiterlesen will, findet bei ihr Hinweise auf das komparatistisch angelegte, von den Arabisten Islam Dayeh und Angelika Neuwirth betriebene FU-Projekt Zukunftsphilologie. Und auf Andrew Huis materialreichen Aufsatz „The Many Returns of Philology“ im aktuellen „Journal of the History of Ideas“, der mit der eindrucksvoll belegten Forderung nach einer „philologischen Philosophie und einer philosophischen Philologie“ endet.

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