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Kultur: Gier regiert die Welt

Anton Tschechows wilder „Platonow“ im Berliner Maxim Gorki Theater

Es ist zum Lachen. Es ist zum Heulen. Oder auch: der nackte Wahnsinn. Viele Frauen verzehren sich nach einem Mann, und das Seufzen und Flehen hätte kein Ende, würde der erfolglos Angebetete und dann ingrimmig gehasste Kerl nicht am Ende über den Haufen geschossen. Aber noch die Leiche möchten die Frauen am liebsten nicht hergeben. Kann er denn wirklich tot sein, dieser Platonow, Dorfschullehrer in der russischen Provinz um 1880 und Held des ersten, ohne Titel überlieferten Theaterstücks von Anton Tschechow?

Ein untergründiges Fieber schüttelt alle Figuren. Sie trinken und spielen, sie feiern Feste, feilschen und schnorren – aus Langeweile. Gefühle gehen von Hand zu Hand wie Geld, sie sind schmutziger noch als die Rubelscheine, die erschachert, verschwendet, zerrissen werden. Selbstmitleid treibt giftige Blüten, Verlogenheit triumphiert. Ein monströses, böses Stück, das böseste und überlängste, das Tschechow geschrieben hat. Später ging er behutsamer auf die Sehnsüchte und das Scheitern seiner Zeitgenossen ein. Uwe Eric Laufenberg hat Tschechows Erstling jetzt in der Übersetzung von Wolf Christian Schröder am Maxim Gorki Theater inszeniert. Er bleibt zunächst überraschend bescheiden beim Text, sieht den Figuren gleichsam staunend zu, aus einem Abstand, den schon der Bühnenbau (Kaspar Glarner) erzwingt. Das Spiel findet oft in der Tiefe und im Hintergrund der Bühne statt. Ob Salon oder Garten, ob Schulhof oder unaufgeräumtes Durchgangszimmer: Es ist eine düstere Welt, voller Verstecke und Geheimnisse, wie von feinem Staub überzogen. Laufenberg lässt das Stück in seiner Zeit, spitzt nicht zu, breitet mit unaufgeregter Genauigkeit ein Leben aus, das sich selbst verzehrt. Erst im letzten Akt treibt der Regisseur das Geschehen um Platonow und die liebesdurstigen Frauen rüde zupackend bis in die Groteske. Jetzt fallen Männer und Frauen brutal übereinander her, die Prügeleien münden in Totschlag – oder einen fast vollzogenen, wütenden Beischlaf. Gier, Zorn, Raserei werden immer von neuem angefacht, und jetzt ist es wirklich zum Lachen und zum Heulen. Bis wieder die Müdigkeit triumphiert, und eine Stille, die aus der Erschöpfung kommt.

Mehr als vier Stunden immerhin muss der Zuschauer Geduld haben. Denn auf den beherzten Eingriff in die Textmasse lässt Laufenberg lange warten. Erst nach der Pause trennt er sich von der Vorlage, verzichtet fast vollständig auf den dritten Akt, der nur noch in Splittern in den letzten Aufzug hinübergeholt wird.

Vorher setzt er auf einen vom Ensemble glänzend gemeisterten, leise angestrengten Plauderton ohne jede vordergründige Wirkungsabsicht. Michael Wenninger als Platonow steht für diese Zurückhaltung, dieses Verdrängen von Leidenschaft, diese leise Scham – es ist keine Glut mehr da beim Liebling der Frauen, nur noch glimmende Asche. Im Mittelpunkt der Aufführung agiert deutlicher noch die Generalswitwe Anna Petrowna der Leslie Malton. Geschliffene Etikette und die Fähigkeit, alles im Auge und im Blick zu haben, paaren sich bei der Schauspielerin mit einer zunächst kaum bemerkbaren, vibrierenden Lüsternheit, sie hat Eleganz, kann aber auch schamlos herausfordernd werden, wenn sie um Platonow kämpft. Regine Zimmermann, Rosa Enskat, Anna Kubin, die anderen Frauen um Anna Petrowna, bleiben da deutlich zurück. Unter den Männern besticht Hans-Jochen Wagner als Arzt Trilezkij, weil er aus seinem unübersehbaren Gewicht heraus das Biedere aufräumt, aber auch rasend zornig zur Schau stellt. Überraschend ist die Sicht auf den „Pferdedieb“ Osip: Silvio Hildebrandt macht ihn zum Philosophen, fast rückt der von der Gesellschaft Verachtete so in die Nähe von Gorkis Luka im „Nachtasyl“.

Nächste Vorstellungen am 26. und 29. Mai, jeweils 19.30 Uhr.

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