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Alter Ego des Regisseurs. Samuele, eine Fischerssohn aus Lampedusa in «Fuocoammare».

© dpa

Goldener Bär für "Fuocoammare": Regisseur Rosi: "Wir sind alle Augenzeugen"

Der Goldene Bär für den besten Film der Berlinale 2016 geht an den Lampedusa-Film "Fuocoammare". Lesen Sie hier unser Gespräch mit dem italienischen Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi.

Gianfranco Rosi, Jahrgang 1964, hat bei der Berlinale für seine Lampedusa-Dokumentation "Fuocoammare" den Goldenen Bären gewonnen. Der italienische Filmemacher gewann 2013 in Venedig den Goldenen Löwen für "Sacro GRA", eine Doku über neun Protagonisten an der Autostrada 90, der Ringautobahn um Rom. Lesen Sie hier unser Interview mit Rosi, das wir bereits vor der Preisverleihung geführt haben.

Signor Rosi, Sie kamen nach Lampedusa, um einen Kurzfilm zu drehen. Aber dann blieben Sie für ein Jahr. Wie kam es dazu?

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine komplexe Wirklichkeit wie die der Bootsflüchtlinge und des Transitraums Lampedusa auf die Schnelle in einem kurzen Film erfassen können. Ich wusste sehr schnell, dass es wohl doch ein Langfilm wird und ich Zeit auf der Insel verbringen möchte. Der Arzt Pietro Bartolo war einer der ersten, die ich dort traf. Er untersucht die Flüchtlinge, wenn sie vom Boot kommen, kümmert sich um die Kranken und die Schwangeren.

Man sieht im Film den Jungen Samuele, der ganz normal als Fischerssohn dort aufwächst. Eine Parallelwelt?

Als ich auf der Insel ankam, waren gerade gar keine Flüchtlinge da, denn das Zentrum für die Erstaufnahme musste renoviert werden, es war für einige Monate geschlossen. Also ergab es sich von selbst, dass ich die andere Identität der Insel kennenlernte, die unabhängig von den Bootsflüchtlingen existiert, die der Fischerleute oder des Jungen Samuele  – er wurde ein  Protagonist des Films. Dann öffnete das Zentrum wieder, also wurde auch das ein wichtiger Schauplatz. Der dritte Fokus des Films liegt auf dem Schiff der Seenotrettung, denn seit der Operation Mare Nostrum 2013 ist die Grenze ja von der Insel mitten ins Meer verlagert worden. Diese Grenze wollte ich zeigen, also begleiteten wir die Rettungsaktionen der Schiffsbesatzung mit der Kamera.

Warum ist Ihnen die Gegenüberstellung wichtig: hier der Alltag des Jungen, der gegen seine Seekrankheit trainieren muss und mit der Steinschleuder auf Vögel schießt, hier die Kriegsflüchtlinge auf den Booten?

Samuel wurde eine Art Alter Ego, nicht nur, weil ich als Kind angeblich ähnlich drauf war. Sondern weil er ständig etwas machte, was förmlich zu einer Metapher für meine, für unsere Wahrnehmung der Flüchtlinge wurde. Er spielt Krieg, er und sein Freund schießen mit imaginären Maschinenpistolen. Er muss zum Arzt, weil er ein träges Auge hat. Er ist auf einem Auge fast blind, genau wie wir, die wir die Tragödie vor unseren Augen nicht wahrhaben wollen.

Gianfranco Rosi am Samstag bei der Pressekonferenz zu 'Fuocoammare' in Berlin.
Gianfranco Rosi am Samstag bei der Pressekonferenz zu 'Fuocoammare' in Berlin.

© REUTERS/Stefanie Loos

Erst jagt er den kleinen Vogel in der Dunkelheit, aber kaum dass er ihn sieht, fängt er an, mit dem verängstigten Tier zu sprechen. Lauter starke Momente, die in eine Wechselwirkung mit dem Geschehen um die Bootsflüchtlinge treten.  Da wächst ein Kind auf, das bald mit der Härte von Lebensentscheidungen konfrontiert sein wird, gleichzeitig verändert uns die Wahrnehmung der Flüchtlinge, die uns damit konfrontiert, Entscheidungen treffen zu müssen. Spätestens im Augenblick der Tragödie, die am Schluss des Films zu sehen ist: Dutzende Leichen liegen im Rumpf eines großen Flüchtlingsboots.  Danach konnte ich nicht mehr weiterfilmen.

Was zeigt man, was nicht? Es ist eine moralische Frage.

Ich fand zuerst, das ist zu hart. Aber dann sagte der Chef der Rettungsmannschaft, ich müsse die Toten filmen. Ich sah es dann auch als meine moralische Verpflichtung an. Auch bei der Montage kommt die Moral ins Spiel: Wie komme ich im Film bis zu dem Punkt, dieses Bild überhaupt zeigen zu können?  Was wäre gewesen, wenn beim Holocaust Kameras da gewesen wären? Wenn Menschen vor unseren Augen sterben, dürfen wir den Blick nicht abwenden.

Was können Kinobilder jenseits der schnellen Nachrichtenbilder leisten?

Sie können Zeugnis ablegen und Aufmerksamkeit generieren. Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir alle Augenzeugen einer großen Menschheitskatastrophe, während sie geschieht. Anders als beim Holocaust oder bei Ruanda gibt es simultan Bilder und nicht erst danach. Wir können nicht sagen, wir haben es nicht gewusst. Das nimmt die Politik in die Verantwortung: So wie die Regierungschefs sich zum Klimagipfel treffen, müssen sie zu Flüchtlingsgipfeln zusammenkommen und gemeinsam die Probleme in den Herkunftsländern angehen. Und sie müssen sich gemeinsam um die Aufnahme der aus Kriegen, Hungersnöten und schrecklichem Elend Geflüchteten kümmern

Noch eine moralische Frage: Im Film wird Samuele zur  Identifikationsfigur, wir kommen ihm auch emotional nahe. Die Flüchtlinge erlebt der Zuschauer fast nur in der Menge, als Gruppe von Überlebenden, von Geretteten, von Leidenden. Fehlt dem Film da die Balance?

Es ging doch gar nicht anders. Mit Samuele verbrachte ich ein Jahr, die Flüchtlinge verlassen das Aufnahmezentrum nach ein, zwei Tagen wieder, ich konnte sie oft nur wenige Stunden treffen. Also versuchte ich wenigstens, Kontakt herzustellen und in der kurzen Zeit eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Ich denke, in der Szene, in der einer der Afrikaner seine lange Reise durch die Wüste über Libyen bis zum Mittelmeer rappt, ist das gelungen. Dieser Rap, ein Schrei, eine Art Gospel, er ersetzt tausend Interviews.  Auch die Tragödie mit den vielen Beinahe-Toten und den Leichen im Boot am Ende - die Wucht dieser Bilder balanciert die Parallel-Erzählung für mich aus. In diesen unsentimentalen Szenen steckt für mich die Essenz des Dramas, denn sie brechen mit der  Lampedusa-Routine, die man vorher im Film sieht: die Ankunft der Boote, die Flüchtlinge im Bus, im Zentrum, die Stationen der Erstaufnahme, das ist ein geregelter Ablauf, der sich fast täglich wiederholt.  

Der Arzt von Lampedusa, Pietro Bartolo, kritisierte hier in Berlin die europäische Flüchtlingspolitik: Die Menschen, wie er sie aus Lampedusa kennt, ließen sich auch mit Mauern nicht aufhalten. Stimmen Sie zu?

Wir erleben gerade einen menschlichen Tsunami, rund 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Elend. Die kann man in der Tat nicht mit Zäunen und Mauern aufhalten. Es ist doch ein Witz, wenn zum Beispiel Kanada sagt, dass sie dieses Jahr so großzügig sind, 5000 Syrer aufzunehmen. 5000 Menschen kommen an einem Wochenende allein in Lampedusa und Sizilien an. Österreich will seine Grenzen schließen, aber Europa darf sich nicht verbarrikadieren. Übrigens haben Mauern auf Dauer noch nie funktioniert. Gerade Ihr Berliner wisst doch, was Menschen damit machen. Sie reißen sie ein.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

Mehr zur 66. Berlinale finden Sie auf www.tagesspiegel.de/berlinale

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