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Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison, 86, zählt zu den  bedeutendsten Schriftstellerinnen der afro-amerikanischen Literatur.

© dpa/Ian Langsdon

„Gott, hilf dem Kind“ von Toni Morrison: Ein weißes Scheusal namens Humboldt

Ein kleiner Roman über zwei große Übel: In „Gott, hilf dem Kind“ entfaltet Nobelpreisträgerin Toni Morrison eine moderne Parabel über Kindesmissbrauch und Rassismus.

Kindesmissbrauch gilt als das unverzeihlichste aller Verbrechen. Es mobilisiert die Emotionen derer, die davon hören, weckt Mitleid und setzt Rachefantasien in Gang. Für Autoren scheint es ein Thema mit Selbstläuferqualitäten zu sein. Im 19. Jahrhundert glimmerte es durch Dostojewskis kalte „Dämonen“, im 20. Jahrhundert wurde Missbrauch zum häufig gewählten Stoff, nicht nur in Krimis. David Foster Wallace widmete ihm in „Unendlicher Spaß“ eine Nebenhandlung. Kleiner Junge, eigener Vater, täglich: das Grauen.

Toni Morrison, 86, Nobelpreisträgerin, hat nun einen schlanken Roman über dieses Übel geschrieben. Er heißt „Gott, hilf dem Kind“ (God Help the Child), ein Titel, gegen den die Autorin vergeblich protestierte, wie sie in einem Interview beklagte. Immerhin deutet er an, worum es geht. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die einst als kindliche Zeugin in einem Missbrauchsprozess ihre Lehrerin belastete. Ein anderes Mal beobachtet sie, ebenfalls noch als Kind, wie der Hausmeister einen Jungen vergewaltigt. Später lernt sie ein junges Mädchen kennen, das als Kind von der Mutter zum Sex mit Erwachsenen gezwungen wurde. Außerdem leidet der Lover der Protagonistin an einem Trauma, weil sein Bruder als Kind missbraucht und ermordet wurde. Der Lover versteht sich besonders gut mit seiner Tante, die wiederum eine Tochter hat, die als Kind von ihrem Stiefvater … Genug, genug. Lange vor Schluss ist das Thema verschlissen. Dass nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen als wegschauende Mittäterinnen angeklagt werden, ist redlich, aber braucht sich in der Wiederholung ebenfalls auf.

Die Opfer sind schwarz, die Scheusale weiß

Das zweite große Thema ist der Rassismus. Die Opfer sind schwarz, die Scheusale weiß. Nicht durchgehend, aber doch so ziemlich. Lula Ann, die Hauptfigur, ist so tiefschwarz, dass ihre fast hellhäutige Mutter sie ablehnt und der Vater sich betrogen glaubt. Die Mutter berührt das Kind so wenig wie möglich und erzieht es zum Gehorsam, angeblich, um es gegen die tägliche Verachtung durch die Weißen abzuhärten.

Diese fürsorgliche Grausamkeit setzt die Handlung in Gang, die überwiegend von den Personen selbst erzählt wird, nur in einzelnen Passagen von einer allwissenden Autorin. Da es um Schuld geht, im Kern um die Schuld einer Gesellschaft, die auf Ungerechtigkeit beruht, wirken die individuellen Reaktionen und Rechtfertigungen wie Plädoyers vor Gericht. Sie illustrieren die Vielfalt der Ereignisse und Standpunkte, der Leser kann mühelos von einer Perspektive zur anderen wechseln.

Dies aber auch, weil Toni Morrison heftig miterklärt – und das Buch so kurz ist. Manche Figuren dürfen zunächst erzählen, dann versickert ihre Geschichte im Sand. Das betrifft etwa die zu Unrecht verurteilte Lehrerin Sofia, die von Lula Ann beschuldigt wurde. Als sie nach 15 Jahren aus der Haft entlassen wird, möchte die inzwischen erwachsene Lula Ann, die sich jetzt Bride nennt, um Verzeihung für ihre Lüge bitten, was vollkommen scheitert. Sofia darf dann noch ein bisschen vom Leben im Gefängnis erzählen, bevor sich ihre Spur verliert.

Bride wird von ihrem Liebhaber verlassen und wandert auf der Suche nach ihm durch die Geschichte wie eine moderne Brüder-Grimm-Figur. Sie ist wunderschön, eine selbstbewusste, intelligente Prinzessin und dennoch ein Aschenputtel. Sie wird brutal zusammengeschlagen (von Sofia), hat einen krachenden Unfall, wird angeschossen – und als wäre das nicht genug, verwandelt sich ihr Körper zurück in den eines bedauernswerten kleinen Mädchens. Das ist wundersam, wenn auch überdeutlich erzählt.

Die Wechsel ins Fantastische und die vielfachen Wiederholungen der Motive rücken die Geschichte in die Nähe einer Parabel. Daher erklären sich wohl die Knappheit des Romans und der Verzicht auf realistische Ausschmückung der einzelnen Szenen. Das wiederum reduziert des Lesers Mitgefühl. Das Happy End erscheint als ironischer Schlenker, allerdings schleppen Bride und ihr perfekter Lover Booker genügend Ballast aus ihrer Vergangenheit mit, sodass die Geschichte nicht auf die rosa Wolke entschwindet. Das Liebespaar hat zueinandergefunden, aber die schlimme Welt bleibt unverändert.

Insgesamt wirkt der Roman eher wie eine Andeutung dessen, was er sein möchte. Und so ruppig der Ton oft ist, treibt er doch auf einer sentimentalen Grundströmung dahin – einschließlich eines einsamen Trompetensolos von Booker im Regen und der aufbauenden Moral. Gegen bedeutungsvolle Namen (Bride=Braut) ist nichts einzuwenden, aber dass der scheußlichste Kinderschänder und Mörder nun Humboldt heißen muss, wohl als Hinweis darauf, was die weiße Kultur taugt, versetzt einem einen Stich.

Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind. Aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz. Roman. Rowohlt, Reinbek 2017. 208 Seiten, 19,95 €.

Gisela Trahms

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