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Fiktiver Rollenspieler. Der schottische Schriftsteller Graeme Macrae Burnet, 50, begibt sich auf die Spuren von Foucault, Camus und Kafka.

© Willie Urquhart/Verlag

Graeme Macrae Burnets Roman „Sein blutiges Projekt“: Die Welt und der Fall

Graeme Macrae Burnets faszinierender Kriminalroman spinnt ein dichtes Netz intertextueller Bezüge - und spielt mit der Frage nach Authentizität. Letztes Jahr war er für den Man Booker Prize nominiert.

Erst einmal kommt das Vorwort mit „ein paar Anmerkungen zum Verständnis“. Der schottische Autor Graeme Macrae Burnet behauptet, er sei in einem Archiv auf die Aufzeichnungen eines Vorfahren gestoßen, auf eine Art Beichte, die ein junger Mann namens Roderick Macrae vor hundertfünfzig Jahren im Gefängnis von Inverness verfasst haben soll. „Mein Leben war kurz und ohne Bedeutung, und ich habe keineswegs die Absicht mich der Verantwortung für die Taten, die ich begangen habe, zu entziehen“, zitiert Burnet seinen entfernten (und mit Sicherheit erfundenen) Verwandten und lässt ihn dann auf knapp 200 Seiten in einer einfachen, nüchternen Sprache erklären, warum er am 10. August 1869 in einem Dorf in den Highlands mit einem Spaten und einer Spitzhacke drei Menschen erschlagen hat.

Der etwas angestaubte literarische Kunstgriff der Herausgeberfiktion ist nur ein erster Hinweis darauf, dass „Sein blutiges Projekt“ ein eher ungewöhnlicher Kriminalroman ist. Graeme Macrae Burnet, Jahrgang 1967 – ihn gibt es wirklich! – hat diesen formalen Rahmen gewählt, um mithilfe von angeblich authentischen Aufzeichnungen, Zeugenaussagen, Zeitungsartikeln und Gerichtsprotokollen die Geschichte eines Verbrechens zu rekonstruieren.

Sein Protagonist Roderick Macrae stellt sich als Sohn eines „crofters“ vor, einer jener bitterarmen Heuerleute also, die im 19. Jahrhundert in den Highlands für einen der adligen Grundbesitzer schufteten und dafür ein karges Stück Land bewirtschaften durften, für das sie obendrein Pacht zahlten. In jedem Dorf gab es einen sogenannten Constable, der die Ansprüche des Großgrundbesitzers und seines Gutsverwalters gegenüber den Pächtern durchsetzen sollte, und von so einem Mann wird Roderick Macraes Vater so lange drangsaliert, bis sein Sohn schließlich nicht nur den Constable, sondern auch dessen fast erwachsene Tochter und ihren jüngeren Bruder brutal erschlägt. „Das Blut rauschte in meinen Schläfen, und ich war ein wenig benommen, aber ich spürte eine gewisse Befriedigung über den erfolgreichen Abschluss meines Vorhabens. Auf einen außenstehenden Beobachter muss der Anblick, der sich in dem Haus bot, ziemlich schrecklich gewirkt haben, und ich gestehe, dass ich selbst den Blick von dem toten kleinen Jungen abwenden musste.“

Die Frage nach der Authentizität stellt sich auf allen Ebenen des Romans

Faszinierend und zunächst leicht rätselhaft an diesem Roman ist, dass unter dem kühlen Ton ein ausgesprochen dichtes Netz von intertextuellen Verweisen liegt. Die Verweise in die schottische Literaturgeschichte sind wohl eher für Experten, mindestens James Hoggs Klassiker „The Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner“ und James Mcphersons gefälschte „Ossian“-Werke müssten genannt werden. Regelrecht Modell gestanden haben Michel Foucaults Anfang der siebziger Jahre veröffentlichte Aufzeichnungen des französischen Bauern Pierre Rivière, der im 19. Jahrhundert seine Mutter und Geschwister umgebracht hat – und dann zum Objekt psychologischer Untersuchung wurde. Graeme Macrae Burnet hat sich direkt am „Fall Rivière“ orientiert: Auch sein Protagonist Roderick Macrae wird in den Diskurs genommen und von dem – real existierenden! – Mediziner und frühen Kriminalpsychologen James Bruce Thomson auf Anzeichen von Geisteskrankheit untersucht und anschließend für schuldfähig erklärt.

„Sein Blutiges Projekt“ – Untertitel: „Der Fall Roderick Macrae“ – wird als Thriller verkauft, passt aber nicht nur ins Krimi-Regal. Kein Wunder, dass Macraes Roman vergangenes Jahr auf der Shortlist für den Man Booker Prize landete. Denn die Frage nach der Authentizität, die durch das Spiel mit der Herausgeberfiktion von Anfang an im Raum steht, stellt sich auf allen Ebenen dieses kunstvoll kompilierten Romans. Wenn Roderick Macrae zum Beispiel mit seinem Vater beim Gutsverwalter vorspricht, um sich nach den Vorschriften zu erkundigen, die angeblich für die „crofter“ gelten, denkt man zwangsläufig an Kafkas „Türhüterlegende“ aus dem „Process“, in der ein „Mann vom Land“ Zugang zum Gesetz verlangt und abgewiesen wird. Und die Gleichgültigkeit, mit der Roderick später im Gefängnis auf das von ihm angerichtete Blutbad zurückschaut, ist wohl bei Mersault abgeschaut, dem unbeteiligt wirkenden Mörder in „Der Fremde“.

Das ist natürlich ein ziemlich groß angelegter Bezugsrahmen, aber am Ende passt der für „Sein blutiges Projekt“. Camus, Kafka und Foucault haben natürlich keine Kriminalromane verfasst. Aber sie haben darüber geschrieben, dass ein Mensch nicht durch ein Verbrechen zum Fall wird, sondern durch die Welt, in der er lebt, durch die Systeme, denen er nicht entkommt. Dieser Spur folgt Graeme Macrae Burnet.

Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt. Der Fall Roderick Macrae. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Europa Verlag, München 2017. 343 Seiten, 17,90 €.

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