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Einst Feuilletonchef des Tagesspiegels: Günther Rühle.

© dpa/pa

Günther Rühle wird 90: Der Feuerkopf

Als Feuilletonist, Kritiker, Intendant und Historiker ein Temperament: Günther Rühle wird 90.

Das größte Geschenk zu seinem 90. Geburtstag am 3. Juni liegt zwar noch nicht auf dem Gabentisch, dafür hat der Jubilar es sich und seinen Lesern, Kollegen, Freunden immerhin selber vorbereitet. Eben gibt es die ersten Druckfahnen, und bald erscheint nun tatsächlich der zweite Band der neueren deutschen Theatergeschichte von Günther Rühle. Schon dies ist ein Ereignis, für das er zu feiern wäre.

Vor sieben Jahren hatte Rühle im S. Fischer Verlag den ersten Band vorgelegt, „Theater in Deutschland 1887 - 1945“, auf 1283 Textseiten, ohne eine einzige Abbildung! Und dennoch ist darin ein gewaltiges, lebendiges Bild des deutschen und deutschsprachigen Schauspiels entstanden, wie es so kein zweites gibt. Die gleichfalls auf 1200 Seiten angelegte Fortsetzung endet freilich 1966, also über tausend Seiten für gerade 21 Jahre, könnte man denken. Günther Rühle indes hat so viel und jederzeit geistesgegenwärtig im Kopf, dass es für mehr als eine einzige Person (und Persönlichkeit) reicht.

Rühle ist ein glühender Journalist und zugleich ein sprühender Historiker. Ein Mann des Tages – und der Epochen. Würde der Theaterkritiker g.r. (so zu Zeitungszeiten sein Kürzel, oft auch unter Dreihundertzeilern) noch viel näher ans Heute heranschreiben, wären wohl weitere 1000 Seiten nötig gewesen. Außerdem sagte er mal gesprächsweise: Im ganz Gegenwärtigen wird’s doch uferlos und jeder glaubt, der Besserwisser zu sein. Also lieber die historische Distanz!

In seinen Büchern hat Günther Rühle, um nur das Exemplarische zu nennen, das Theater und die expressiven, expressionistischen Autoren der Weimarer Republik im kulturellen Gedächtnis bewahrt und ist als Herausgeber der Werke Alfred Kerrs, als theaterkritischer Geschichtsschreiber und Geschichtenerzähler, als unermüdlicher Auffinder und tiefgründender Ausdeuter zum bedeutenden Theaterhistoriker geworden. Also wird er uns noch zu erklären wissen, warum er gerade das Jahr 1966 als vorläufige Zäsur sieht. Und mit Sicherheit wird er von dort seine Brücken schlagen in die Gegenwart. Dazu steckt ja der Theaterkritiker, der Feuilletonist und vormalige Tageszeitungsmacher ganz heftig und heutig auch im Historiker. Hoppla, ich lebe noch!

„Hoppla, wir leben“ hieß Ernst Tollers expressionistisch-revolutionäres Zeitstück, mit dem Erwin Piscator 1927 sein berühmtes Theater am Nollendorfplatz eröffnet hatte. Drei Jahre zuvor kam Günther Rühle in Gießen zur Welt, als Sohn eines Wirtschaftprüfers, als Nachfahre eines preußischen Generals und Freundes von Heinrich von Kleist. Ein Bürger, kein Revoluzzer, in den 1960er Jahren Theaterkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, von 1974 bis ’85 ihr Feuilletonchef. Dass es auf den Kulturseiten der (damals noch konservativeren) FAZ oft gärte, lag auch an Rühles geistiger Hefe. Der klein gewachsene Mann scheint im Gespräch, in Debatten, bei öffentlichen Reden sofort zu wachsen, er hat, leicht geröteten Gesichts und mit gehobener Stimme immer Statur. Gewicht. Macht Eindruck. Meint es ernst, wirkt auch ernst – obwohl er von wunderbarem Humor sein kann. Ein Feuerkopf noch jetzt, und sein Alter glaubt ihm keiner.

Als zwischenzeitlicher Intendant des Frankfurter Schauspiels, wo er Schauspieler wie Martin Wuttke entdeckte und Thomas Thieme, wo er den Regisseur und Dichter Einar Schleef entscheidend förderte, hatte er gleich im Anfangsjahr 1985 mit und für Fassbinders skandalisiertes Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ zu kämpfen. Von 1991 an war er, der Pensionist und weiter hochproduktive Publizist, dann auch ein paar Jahre beim Tagesspiegel und half als Feuilletonchef, das West-Berliner Traditionsblatt weiter zu öffnen, gen Osten und Süden, ins gesamtdeutsch Überregionale. Ein Anreger, ein geistiges Temperament ist er geblieben. Vivat!

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