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eBooks: Guten Tag, hier spricht dein Autor

eBooks sind aufgeladen mit Musik, Videos, Links. Die Zeit des stillen Lesens ist vorbei.

Erst ist es stockdunkel. Dann, zisch, das Licht eines Streichholzes. Es beleuchtet eine Taschenuhr und ein paar Zeilen eines Buchs. „Ich zündete ein Streichholz an und sah auf meine Uhr,“ steht da. Es liegt nahe, Bram Stokers „Dracula“, diesen gruseligen Tagebuchroman aus dem späten 19. Jahrhundert, mit kratzenden Federn und flackernden Kerzen zu illustrieren. Die kleine kanadische Firma PadWorx hat sich die Mühe gemacht, pünktlich zu Halloween ist ihr „Dracula“ exklusiv für das iPad verfügbar. In der Ankündigung wirbt die Firma mit „über 600 Illustrationen“, tollen Games und super Soundtrack.

Digitalisieren lassen sich Bücher schon lange, aber der monofunktionale eBookReader ist in Deutschland ein ziemlicher Ladenhüter. Dafür tut sich gerade eine neue Spielwiese auf: „Enhanced eBooks“ heißt die noch etwas holprige Bezeichnung für angereicherte digitale Buchausgaben für Smartphones und Tablet-Computer. Die gute Nachricht: Technisch möglich ist fast alles. Die schlechte: Es kostet wahnsinnig viel Geld. Und für wen es sich rechnen wird, weiß noch niemand.

Umso wichtiger, erst mal die möglichen Bedürfnisse des Publikums auszuloten. Zurzeit experimentiert die Branche in unterschiedlichste Richtungen, meistens führt der Weg dabei zu der kleinen Berliner Firma Textunes. Das Start-up-Unternehmen, vor zwei Jahren von drei jungen Männern gegründet, sitzt mit 25 Mitarbeitern im Loftbüro in einem Kreuzberger Hinterhof. Von hier aus wird so ziemlich alles geplant und umgesetzt, was in Deutschland als enhanced eBook auf den Markt kommt.

Zum Beispiel die „Olchis aus Schmuddelfing“: Der Oetinger Verlag hat den Kinderbuchklassiker gerade von Textunes bearbeiten lassen. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie gewohnt. Da sind die Bilder, unten ein Button, der den Text sichtbar werden lässt. Aber man kann zusätzlich einzelne Figuren antippen, hier und da bewegt sich was, Arme winken, Requisiten fliegen herum. Mit einem Klick auf den Lautsprecher liest sich das Buch außerdem selbst vor.

Diese Art des „Enrichments“, wie Geschäftsführer Simon Seeger es nennt, hat Textunes sich aus den USA abgeschaut, dort sind schon etliche aufgemotzte Kinderbücher auf dem Markt. Manche, wie das erfolgreiche „Alice for the iPad“ erinnern entfernt an alte Pop-up-Bücher mit eingebauten Zieh-Laschen. In anderen Titeln wird alles animiert, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. „Da sind die Grenzen zum Computerspiel schon sehr fließend,“ sagt Seeger.

Bei den populären Sachbüchern ist das ähnlich. Beliebteste Beigaben sind Videoschnipsel, Multiple-choice-Spielchen, Bild- und Texthäppchen. Das Ergebnis ähnelt Artikeln, wie man sie von Spiegel online kennt. Trotzdem sind App-Versionen für etliche Genres sinnvoll, etwa für Lehrbücher, Reise- und Ratgeberliteratur, wie Seeger prognostiziert. Nicht nur, weil der multimediale Mehrwert als Verkaufsargument für den in Deutschland vergleichsweise hohen eBook-Preis funktioniert, sondern vor allem, weil die Ergänzungen haptische, optische und akustische Abwechslung versprechen.

Die Strategie funktioniert dort am besten, wo es nicht um konzentrierte Lektüren und lineare Erzählstrukturen geht. Die drei Rowohlt-Sachbücher, die zur Frankfurter Buchmesse enhanced auf den Markt kamen, zeigen das spielerische Potenzial. Das Buch des Gedankenlesers Thorsten Havener ist mit Videoinstruktionen angereichert. Comedian Bernhard Hoecker lässt seine Leser an der Mühsal des Schreibens teilhaben, indem er die Korrekturen des Lektorats sichtbar macht. Und die Einstein-Biografie von Johannes Wickert setzt auf die Faszination des Authentischen: Das Buch ist mit Original-Audiodateien aus Einsteins Leben gespickt.

Für die Belletristik gestaltet sich das Anreichern schwieriger. Zwar kann sich der 29-jährige Seeger auch für Romane stimmungsverstärkende Effekte vorstellen, aber Verlage und Autoren seien noch sehr zurückhaltend. Einzig Bastei Lübbe hat sich gerade an die Erweiterung von Ken Folletts neuestem Opus „Sturz der Titanen“ gewagt. Der Ansatz ist eher sachlich, die Weltkriegssaga ist auch als enhanced eBook frei von Fahrstuhlmusik oder Gewitterdonner. Es lassen sich lediglich Fußnoten zu historischen Personen und Orten aufklappen, dazu ein paar Landkarten und Stammbäume, auch Links zu Wikipedia wurden integriert. Am Bucheingang spricht der frisch geföhnte Autor ein freundliches Video-Grußwort, am Ende erklärt er nochmal alles. Den Fans gefällt die Mischung offenbar. Seit Wochen steht der angereicherte Follett in den Top Ten des iBook-Stores.

Für den historischen Wälzer ist damit womöglich das perfekte Rezept gefunden. Aber was macht man mit dem Rest der Erzählliteratur? Die amerikanische Firma Ideo, die sonst im Auftrag internationaler Kunden ermittelt, hat diesmal auf eigene Faust recherchiert und drei eBook-Konzepte auf der Videoplattform vimeo.com vorgestellt, Titel: „The Future of the Book“ (www.vimeo.com/ 15142335). Die Diskussion dazu findet bei Facebook statt (www.facebook.com/ideobigconversations). Die Rückmeldungen sind zahlreich: Ich wünsche mir eine Übersetzungshilfe für englischsprachige Bücher, schreibt ein portugiesischer Student. Ich möchte alle Anmerkungen zu allen Wörtern sehen können, schreibt ein anderer. Ein Dritter fordert Bücher, die sich in Sprache und Länge automatisch an das Alter des Lesers anpassen. Eine Fraktion will Mitspracherecht beim Handlungsverlauf, eine andere möchte sich mit ihren Lieblingsfiguren unterhalten können, wieder andere fänden eingebaute Sekundärliteratur hilfreich. Das ideale enhanced eBook wäre wohl das Buch der tausend Lesbarkeiten. Wie hätten Sie Ihren Stoff denn heute gerne: eskapistisch, identifikatorisch, diskursanalytisch, poststrukturalistisch – oder doch pur?

Zahlreiche Kommentatoren wollen es vor allem noch interaktiver. Bei Textunes fördert man diesen Mikrotrend bereits gezielt. Aus allen digitalen Büchern, die die Firma im hauseigenen eBookstore verkauft, kann man Zitate twittern und mailen. Der Nutzen liegt auf der Hand: Der begeisterte Leser wird zum begeisterten Weitersager. Und der interessierte Neukunde braucht wiederum nur wenige Klicks, um an die kostenlose Leseprobe zu gelangen – oder gleich zur Kasse zu gehen. Die Verzahnung von Buchmarkt und sozialen Netzwerken hat im Kleinen begonnen. Sollte sie sich als lukrativ und massenkompatibel erweisen, wird der Faden sicher noch weitergesponnen.

Denkbar wäre vieles. Warum nicht in Zukunft einen „Gefällt mir“-Daumen an ein gelungenes Kapitel kleben? Oder mitten im Buch Fragen stellen, eine Diskussion anzetteln? Der Interaktions-Aktivist Sascha Lobo hat die App zu seinem Debütroman „Strohfeuer“ mit einer Funktion namens ‚Buchfrage’ ausgestattet, sie wird entweder an den Autor persönlich oder auf der Plattform lovelybooks.de an die gesamte Community geschickt. Bisher verläuft das eher harmlos, die Fragen ähneln denen auf Lesungen: Haben Sie sich das alles ausgedacht, schreiben Sie schon wieder ein neues Buch? Nur ein Leser hat die Tragweite des Features erkannt. Hallo, ist gerade noch jemand hier im Buch?, wollte Krisan wissen. Er bekam keine Antwort. Noch ist es still in der Welt der Lesenden. Womöglich nicht mehr lange.

Am heutigen Donnerstag beginnt in Berlin der zweitägige Kongress „Homer 3.0 – Die Odyssee des Buches im digitalen Zeitalter.“ Info: www.berlinerbuchhandel.de

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