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Urenergetisch. Christopher Nell und Meret Becker, die kurzfristig für Regina Fritsch eingesprungen ist.

© Monika Rittershaus/Berliner Ensemble

Handke-Premiere im Berliner Ensemble: Bedonnert und beblitzt

Claus Peymanns Wiener Handke-Uraufführung „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“ landet im Berliner Ensemble.

Jetzt ist sie also ins Berliner Ensemble eingemündet, die Landstraße, auf der das distinktionsbewusste „Ich“ aus Peter Handkes jüngstem Stück die vorübertrudelnden Passanten als „Pack, Doppelpack, Tetrapack“ abkanzelt. Und sie wirkt wirklich ziemlich klein.

Am vergleichsweise gigantischen Wiener Burgtheater, wo Claus Peymann diese Handke-Uraufführung mit dem epischen Titel „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“ bereits vor zwei Monaten gestemmt – beziehungsweise, wie nicht wenige Augenzeugen (siehe Tagesspiegel vom 29. Februar) befanden – ziemlich in den Sand gesetzt hatte, erweckte immerhin Karl-Ernst Herrmanns Bühnenbild den Anschein von Weite: Ein adrett geschwungener Wanderweg mit einem allen Ernstes Rucksack tragenden „Ich“ (Christopher Nell), führend ins bühnentiefe Irgendwo und in wechselnden Farben ausgeleuchtet sowie plakativ bedonnert und beblitzt, was die Bühnenmaschinerie hergibt.

Groß war dieses Projekt, eine Wiener Koproduktion mit dem BE, ja tatsächlich kalkuliert gewesen: Peymanns erste Inszenierung an der Burg seit seinem Intendanzwechsel nach Berlin anno 1999! Und zwar mit dem Sparringspartner Peter Handke, mit dem er – angefangen in den 1960er Jahren im Frankfurter Theater am Turm – einst Theatergeschichte geschrieben hatte. Die österreichische Presse war im Februar entsprechend aus dem Häuschen gewesen, und Peymann selbst hatte sich zu einem waghalsigen Vergleich verstiegen: Er fühle sich angesichts des „Erwartungsdrucks“ wie ein Fußballspieler „unmittelbar vor dem Elfmeter“.

Der Ball kullert meterweit am Kasten vorbei

Logisch, dass der Ball nun auch bei der Berliner Premiere – mit deutlich weniger voluminösem Psycho-Rucksack – meterweit am Kasten vorbeikullerte. Beinahe hätte man tatsächlich schreiben müssen, dass alles haargenau so ist wie in Wien, nur eben auch räumlich kleiner: Handkes Text, in dem das in ein „episches“ und ein „dramatisches“ gesplittete „Ich“ wortreich, bildungsbürgersattelfest und literarisch entsprechend anspielungsreich gegen die banausischen Gegenwartsniederungen zu Felde zieht und dabei gelegentlich durchaus Selbstironiesignale aussendet, heruntergebrochen auf jenen putzigen Märchenonkel-Theaterton, den Peymann halt seit geraumer Zeit so pflegt.

Das Feindbild des (Autoren-)Ichs, all diese geschichts- und gesichtslosen „tätowierten Schwimmlehrer, menschgewordenen Fischgrätmuster, Gotteskrieger und Friedenssoldaten“, die Handke „die Unschuldigen“ oder auch „ewig Heutigen, Unberührbaren, Unbeleckten“ nennt – tölpeln mit ihren Handys am Ohr in Berlin keinen Deut differenzierter die „Landstraße“ entlang als in Wien. „Geteufelt“, wie der Autor sich das vorgestellt hatte, kommen sie jedenfalls hier so wenig wie dort.

Sprich: Keine Auseinandersetzung, nirgends mit dem Text, der sich in seiner elaborierten und bisweilen durchaus produktiv nervenden Weltempfindlichkeit selbst hinterfragt. Sondern: Eine seltsam oberflächenversiegelte Theaterhandwerksdarbietung, bei der man nie auf den Gedanken käme, sie könnte irgendetwas mit dem Leben außerhalb jenes praktizierenden Bühnenmuseums zu tun haben, in dem sie stattfindet.

Meret Becker trainierte sich den Part innerhalb von drei Tagen an

So weit, so Wien also. Einen entscheidenden Unterschied gibt es aber letztlich – ungeplant – doch. Regina Fritsch, die Wiener Darstellerin der „Unbekannten“, einer (und bei Peymann häufig tuchwedelnden) Art Sehnsuchtsadressatin des „Ich“ im semitransparenten schwarzen Kleid, erkrankte kurzfristig und musste umbesetzt werden. Das BE verschob die Berliner Premiere um einen Tag, Meret Becker sprang ein, trainierte sich den Part innerhalb von drei Tagen an – und bringt, vielleicht auch deshalb, tatsächlich etwas überraschend Gegenwärtiges in den Abend. Während Fritsch die Rolle eher entrückungsenergetisch angelegt hatte, bürstet Becker mit einer höchst sehenswerten, irgendwie beiläufigen und unangestrengt emanzipierten Art Urenergie dagegen, die für BE-Verhältnisse momentweise fast einer kleinen Volksbühnen-Anwehung gleichkommt.

Und der Schlussapplaus? Im Februar in Wien: eher freundlich. Jetzt in Berlin: erstaunlich frenetisch, gemessen jedenfalls an der Energiebilanz im Zuschauerraum während der drei Stunden bis dahin. Zumal sich die Reihen nach der Pause sichtlich gelichtet hatten. Aber vielleicht gehört ja das finale „Bravo“ genauso unverbrüchlich zum Theatermuseum wie die Gewissheit, dass ein Schauspieler, der auf der Peymann-Bühne „Nachdenken“ spielt, den Kopf schräg, die Stirn in Falten und dazu weiträumig die Hand an den Vorderkopf legt.

Nächste Aufführungen am 4. und 5. Mai sowie 12. und 13. Juni

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