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Kultur: Harry Potter: Die volle Dröhnung

Wer über den Erfolg der Harry-Potter-Bücher nachdenkt, landet ziemlich schnell bei dem Münchner Potter-Forscher Jörg Knobloch. Von Knobloch stammt der Satz: "Es gibt in Hogwarts keine missbrauchten Mädchen, schwulen Lehrer oder Asylbewerber.

Wer über den Erfolg der Harry-Potter-Bücher nachdenkt, landet ziemlich schnell bei dem Münchner Potter-Forscher Jörg Knobloch. Von Knobloch stammt der Satz: "Es gibt in Hogwarts keine missbrauchten Mädchen, schwulen Lehrer oder Asylbewerber." Kinderbücher werden normalerweise von Pädagogen geschrieben. Sie wollen aufklären und den Kinder etwas beibringen. Michael Ende zum Beispiel war ein Pädagoge.

Joanne K. Rowling dagegen ist eine Entertainerin. Sie will aus den Kindern keine besseren Menschen machen, nur besser gelaunte. Wenn Kinder selber so schreiben könnten wie Erwachsene, dann würden sie es wohl so machen wie Rowling.

Harry Potter, der Junge, der entdeckt, dass er ein Zauberer ist und dass er, nur er, die Welt vor dem Bösen retten kann: eine kindliche Allmachtsphantasie. Auch der amerikanische Autor Stephen King hat versucht, Harry Potters Erfolg zu analysieren. King hat aufgedröselt, was alles in den Potter-Büchern steckt - das Märchen vom Aschenputtel, Peter Pan, eine Detektivgeschichte, die britischen Schulromane... Es ist ziemlich viel, aber im Kern läuft es auf die älteste aller Geschichten hinaus, den Kampf des Guten gegen das Böse. Bei Michael Ende stand das Böse für eine Idee. Die grauen Herren, die Zeitdiebe, waren ein Symbol für den Kapitalismus. Bei Rowling steht das Böse für sich selbst, es ist so archaisch wie in den meisten Romanen von Stephen King.

Auf der Zauberschule Hogwarts lernen die Kinder, was alle Kinder lernen müssen - sich in einer Welt zurechtzufinden, die voller unbegreiflicher Wunder ist. Wenn Rowling eine Botschaft hat, dann diese: Die Welt kann man nicht begreifen. Der Zauberstab ist wie ein Computer - zu kompliziert, um ihn zu verstehen, aber einfach genug, um ihn zu bedienen. Man kann seine Gebrauchsanweisung lernen, die richtige Zauberformel für jede Lebenslage. So trifft Rowling in einer scheinbar zeitlosen Internatsgeschichte genau das Lebensgefühl der Gegenwart und das der Computerkinder. Das alles findet in einer vormodernen Welt statt, mit Dampfeisenbahn und Schloss.

In den Harry-Potter-Film sollte man im Grunde keinen Kritiker schicken, eher jemanden von der Stiftung Warentest. "Harry Potter und der Stein der Weisen" will kein "Werk" sein, er ist eine Produktpalette. Sicher, dieser Satz gilt für viele Filme, vielleicht sogar für alle, deren Etat eine bestimmte Höhe überschreitet - aber so wahr wie hier war er selten. Originalität bei der Umsetzung der literarischen Vorlage, die eigene Vision eines Regisseurs, Freiraum für die Phantasie der Zuschauer, Überraschungen, das alles war streng verboten. Der Film musste sich so eng wie möglich an den ersten Bestseller von Joanne K. Rowling halten. Dafür hat die Autorin persönlich gesorgt. Auch bei der Auswahl des Regisseurs, der Drehorte, der Hauptdarsteller sowie des streng britischen Grundcharakters der Unternehmung hatte sie ihre Finger im Spiel. Einer Frau, die fast 120 Millionen Bücher verkauft hat, widerspricht man nicht einmal in Hollywood.

Jemand hat ausgerechnet, wie viele Oscars und Oscar-Nominierungen die Mitwirkenden insgesamt auf sich vereinigen, es sind 56, wahrscheinlich ein Weltrekord. "Harry Potter" ist also das, was dabei herauskommt, wenn eine siegessichere Filmindustrie ihr Bestes gibt: die volle Dröhnung. Das Produkt "Harry Potter" ist in technischer Hinsicht perfekt. Der Produktionsdesigner Stuart Craig (bisherige Lebensbilanz: sechs Oscar-Nominierungen, drei Oscars), der Kameramann John Seale (drei Nominierungen, ein Oscar) und für der Spezialeffekte zuständige Rob Legato (zwei Nominierungen, ein Oscar) übertreffen sich selbst, vor allem bei der Inszenierung atemberaubender Räume - der Speisesaal von Hogwarts! Die Fahrt über den See! Der Zauberwald! Die Namen des Ensembles lesen sich, bis in die kleinsten Nebenrollen, wie ein Almanach britischer Schauspielkunst. Maggie Smith, Julie Walters, Zoe Wanamaker, Alan Rickman, Ian Hart, John Cleese, Richard Harris, John Hurt, Robbie Coltrane, den das deutsche Publikum aus "Für alle Fälle Fitz" kennt. Es fehlt nur noch Sean Connery.

Zweieinhalb Stunden. Man langweilt sich, auch als Erwachsener, garantiert nicht. Der Film wird fast jeden beeindrucken. Bezaubern wird er allerdings kaum. Seinen Produktionsbedingungen entkommt er kaum einen Moment, dieser fast unlösbaren, aber dann doch gelösten Aufgabe - die Fans des Buches nicht vor den Kopf zu stoßen, möglichst viele Szenen und möglichst viele Personen in den Film zu retten, vor allem sämtliche Highlights. Ein (in der deutschen Fassung) 335 Seiten langer, mit Handlung vollgepackter Roman ist wahrscheinlich noch nie so handlungsgetreu im Film umgesetzt worden. Das Ergebnis sieht aus wie ein Greatest-Hits-Album, wie eine Abfolge von schnell geschnittenen Clips. Eulenpost, Hogwarts-Express, Quidditch, der Hund mit den drei Köpfen, das sterbende Einhorn, der Babydrache - die tollsten Szenen und die skurrilsten Figuren aus Harry Potter, Schlag auf Schlag. Wenn der Regisseur Chris Columbus ("Kevin allein zu Haus", "Gremlins", "Mrs. Doubtfire", null Oscars) und sein Autor Steve Kloves (der Regisseur der "Fabelhaften Baker Boys", eine Oscar-Nominierung) etwas abgehakt haben, kommen sie nur selten noch einmal darauf zurück.

So paradox es klingt - gerade durch sein Bemühen, dem Buch möglichst nahe zu sein, entfernt sich der Film von seinem Vorbild. Was auf der Strecke bleibt, sind die retardierenden Momente, der raffinierte Wechsel von Tempo und Stillstand in Rawlings Prosa. Der erzählerische Faden geht in dieser grandiosen Nummernrevue irgendwann verloren, und wer das Buch nicht kennt, dürfte sich schwer damit tun, die Geschichte zu verstehen. Der Film gibt ständig Vollgas, damit er sein Pensum schafft.

"Harry Potter und der Stein der Weisen" ist also ein Actionfilm geworden, mit starken Bildern und einer schwachen, weil unübersichtlichen Geschichte. Je länger es dauert, desto mehr erinnert es an "Indiana Jones", das klingt gut - nur fehlt die Ironie von "Indiana Jones".

Wegen der zum Teil drastischen Spukszenen und wegen des hohen Tempos sollte man sich davor hüten, den Film kleineren Kindern zu zeigen. Sechs Jahre sind wirklich das Mindestalter, acht sind besser. Im Darstellerensemble ist nur eine einzige Rolle auffällig schwach besetzt, die Hauptrolle. Mit dem elfjährige Daniel Radcliffe hat man sich einen Helden fast ohne Eigenschaften besorgt, eine Projektionsfläche, sehr nett, aber ein bisschen glatt, deutlich uninteressanter als seine Kumpane, der kleine Proletarier Ron (fünf Geschwister, wow!) und die Besserwisserin Hermine.

Auch im Film tauchen übrigens keine missbrauchten Mädchen auf, keine schwulen Lehrer und keine Asylbewerber. Aber Chris Columbus hat doch darauf geachtet, unter die Zöglinge von Hogwarts ein gewisses Quantum an dunkelhäutigen Kindern zu mischen. Der Film, der in Deutschland mit der neuen Rekordzahl von 1226 Kopien startet, soll schließlich weltweit laufen und mit Hilfe sämtlicher Ethnien den Erfolg von "Titanic" übertreffen. Diesem Ziel könnte auch die Besetzung von Harrys Erzrivalen dienen, des kleinen Draco Malfoy, gespielt von Tom Felton. Draco, stahlblaue Augen, blonder Scheitel, skrupellos, diabolisch, aber auch ein bisschen dämlich, kommt einem sofort aus tausend Hollywoodfilmen bekannt vor. Na klar - es ist wieder mal der typische Nazideutsche! Im Weltkino spielen die Deutschen keine nennenswerte Rolle, aber wenn man den Kindern das Böse zeigen will, von Grönland bis nach Karachi, sind wir nach wie vor die erste Adresse.

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