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Der Gereifte. Heinrich Böll im Jahr 1970.

© Horst Ossinger/dpa

Heinrich Bölls Kriegstagebücher: Mit Gott und Annemarie

Heinrich Bölls Kriegstagebücher sind erschienen. Leider enthalten sie nur wenig Aufschlussreiches über den Schriftsteller oder die Zeit.

Das Vorwort René Bölls war noch nicht geschrieben, das Buch noch nicht gedruckt, als die Verlagswerbung schon posaunte, die Kriegstagebücher seines Vaters seien eine „Sensation“ und „ein Glücksfall für alle“, die Heinrich Böll nahekommen wollten. Umso besser, dass das Vorwort warnt, die Aufzeichnungen seien „zwar sehr persönlich, aber nie intim“. Böll habe diese Notizbücher von seinen Manuskripten und sonstigen Materialien separiert und „insofern auch konsequent in seinem Testament von einer Veröffentlichung ausgeschlossen“. Bei ihrer Übergabe habe er noch verfügt, sie sollten immerhin der wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung stehen.

René Böll interpretiert das großzügig, sein Vater habe damit „die Entscheidung letztlich an die Familie delegiert, die Art und Weise der Auswertung zu bestimmen“. Das kann man so oder anders sehen. Max Brod hat bekanntlich weniger Umstände gemacht, Kafkas Verfügung, seine Romane zu vernichten, zu ignorieren. Deren Erscheinen war eine der literarischen Sensationen des 20. Jahrhunderts. Für Heinrich Bölls Kriegstagebücher gilt das nicht. Es handelt sich weder um ein selbstständiges literarisches Werk noch überwiegend um Tagebücher im Sinn reflektierter Aufzeichnungen, sondern um stichwortartige Notizen in zwei Taschenkalendern und, in Ermangelung eines weiteren für 1945, in einem schlichten Notizheft.

Oft enden die Notizen mit einer Anrufung Gottes oder seiner Verlobten

Die Stichworte – nur selten ganze Sätze – umfassen Orts- und Wetterangaben, Bemerkungen über den Stuben- und Frontalltag, „Krach mit den Herren Unteroffizieren“, die Titel seiner Lektüren, grassierende Krankheiten, Hunger und den ewigen Mangel des Kettenrauchers an Tabak und Zigaretten. Die Schrecken der Front, die er nur sechs Wochen bis zu seiner Verwundung auf der Krim erlebte („morgens Trommelfeuer, das Schlimmste bisher die ,Stalin-Orgel’“) schlagen sich in Stoßgebeten nieder und wiederholtem Aufschrei, der sich nur manchmal expressionistisch verdichtet wie die Gedichte von August Stramm aus dem Ersten Weltkrieg. Oft enden die Notizen mit einer Anrufung Gottes („Gott lebt“! – „Gott helfe mir!“) und einer Vergegenwärtigung seiner Verlobten und späteren Frau Annemarie („Anne-Marie Du!“ – „Anne-Marie mein Weib!“), manchmal beides gleichzeitig („Gott lebt. Anne-Marie!“).

Ihr hat er fast täglich Briefe geschrieben, deren 2001 erschienene Auswahl in zwei Bänden allein 1500 Seiten umfasst. Sie sind den Lesern, die Böll nahekommen möchten, weit eher zu empfehlen. Anders als die Notizbücher umfassen sie die gesamten Kriegsjahre von 1939 bis 1945 und wurden bei ihrem Erscheinen 2001 mit besserem Recht als Sensation wahrgenommen. Sie dokumentieren seinen literarischen Werdegang von seinem ersten, damals unveröffentlichten Roman „Am Rande der Kirche“ (1939/2004)) bis zu seinen im Stahlbad des Weltkriegs gereiften Kriegs- und Nachkriegsromanen und Erzählungen.

Vier Monate wartet Böll in Kriegsgefangenschaft auf ein Wunder

Aufschlussreiche Vermerke enthalten aber auch diese Notizbücher, etwa 1944 einen über die Lektüre von Ernst Jüngers Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ („tolles Buch“) und Hans Grimms „Volk ohne Raum“. 1944 an Hitlers Geburtstag vermerkt das Notizbuch „Abends Feier beim Frisör!!!“, am 20. Juli lapidar „Attentat auf Hitler während wir im Konzert sind.“ Am 2. Mai 1945 notiert er, schon in amerikanischer Gefangenschaft: „Hitler Tod. Gott sei ihm gnädig.“ Am 8. Mai konstatiert er „ab 1 Uhr morgens Frieden in Europa“, zwei Tage später „Schmerz um Deutschland“. Vier Monate lang erwartet er im britischen Lager La Hulpe „das Wunder einer plötzlichen Befreiung“.

Mit ihr enden seine Notizen am 15.9.1945. Nach einer Fahrt über Krefeld und Neuß durch seine zerstörte Heimatstadt Köln heißt es: „Entlassung – in Bonn“. Es sollte noch dauern, bis sich sein Traum erfüllte, endlich „hübsche Feuilletons schreiben und ein menschliches Leben leben“ zu dürfen. Doch beides, und ein bisschen mehr, ist ihm schließlich mit Gottes und Annemaries Hilfe gelungen.

Die vorliegende Ausgabe der Notizbücher zelebriert sie als Faksimile in aufwendiger Ausstattung, als flexible, in Kunstleder gebundene Kladde mit Lesebändchen. Ein größerer Kontrast zu ihrem Inhalt lässt sich kaum denken.

Hannes Schwenger

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