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Putin? Nie gehört! Prorussische Milizionäre beim Gefechtstraining in der Nähe von Tores im Donbass.

© dpa/Alexander Ermochenko

Historiker Karl Schlögel im Interview: „Man muss bei Putin mit allem rechnen“

Der Historiker Karl Schlögel spricht über den vergessenen Ukraine-Krieg und erklärt, warum Russlands Präsident Wladimir Putin ein Getriebener ist.

Herr Schlögel, Russland und die USA nähern sich einander an, um den Krieg in Syrien zu beenden. Vergisst der Westen nun einen anderen Krieg, den in der Ukraine?
Putins UN-Auftritt war unglaublich gut vorbereitet, virtuos orchestriert. Dazu gehörte schon die kurzfristige Anreise in New York. Er wollte allen zeigen, dass er Herr des Verfahrens ist, selbst was die Terminsetzung angeht. Ob er sich wirklich für die Lösung des Konflikts in Syrien engagieren wird, da habe ich große Zweifel. Er hält bis heute zu Assad, der für die Katastrophe verantwortlich ist.

Und die Ukraine?
Gleich im ersten Satz hat Wladimir Putin an die Konferenz von Jalta vor 70 Jahren erinnert. Wörtlich sagte er: „Jalta in unserem Land“. Jalta gehörte zur Sowjetunion und liegt auf der Krim, die er vor einem Jahr von russischen Truppen völkerrechtswidrig annektieren ließ. Das war eine Erinnerung an die Zweiteilung Europas nach 1945 und zugleich eine rhetorische Provokation.

Geht es Putin um einen Deal mit dem Westen nach dem Motto: Wenn ihr mit mir über den Krieg in Syrien verhandeln wollt, dann müsst ihr von der Ukraine schweigen?
Das will er ganz bestimmt. Europa ist in einer unglaublich schwierigen Situation wegen der Migrations- und Flüchtlingswelle. Putin benutzt diese Situation, um Druck auszuüben. In den russischen Medien wird derzeit voller Häme und Schadenfreude über Europa berichtet: dass die EU-Staaten in die Knie gehen, dass sie mit den Grenzkontrollen ihre eigenen Werte verraten. Im Klartext heißt dass: Man ist eigentlich dankbar für diese Krise, wie schon zuvor über die Euro- und Griechenlandkrise. Putin benutzt sie zur Erpressung.

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat bereits ein Ende der Sanktionen gegen Russland in Aussicht gestellt. Ein fatales Signal?
Die Stimmung, die sich in Gabriels Vorstoß ausdrückt, liegt schon lange in der Luft. Viele wollen zurückkehren zum Status quo ante: den realitätsfernen Traum von der Entspannung weiterträumen und in Ruhe Geschäfte betreiben. Ein Signal war der Abschluss des Vertrages über den Bau der zweiten Nord-Stream-Pipeline, an dem BASF und Eon beteiligt waren. Explizit wurde darauf verwiesen, dass man mit der Gasleitung die Ukraine umgehen wird. Das ist so etwas wie eine Preisgabe der Ukraine, wie schon bei Nord Stream 1. Das Gas fließt durch die Ostsee, Polen und die Ukraine werden umgangen. Nord Stream war eine der Ursachen, die die Ukraine-Krise möglich gemacht haben. Nachdem die Versorgung Deutschlands mit Gas sichergestellt war, brauchte man sich um die Ukraine als Transitland nicht mehr zu kümmern.

Was halten Sie von der Forderung, man müsse das Gespräch mit Russland endlich wiederaufnehmen?
Das Gespräch mit Russland ist doch überhaupt nie abgebrochen worden. Die Frage lautet stattdessen, was man der russischen Seite zu sagen hat. Die ganzen deutschen Unternehmen wollen wieder zurück ins Geschäft, und Sigmar Gabriel ist nur der Lautsprecher für diese Stimmung. Bei den Diskussionen um die Einhaltung des Minsker Abkommens zur Deeskalation der Krise wird irritierenderweise gar nicht mehr darüber gesprochen, dass die territoriale Integrität tagtäglich ignoriert und verletzt wird. Es gibt praktisch keine funktionierende russisch-ukrainische Grenze mehr, da rollen die russischen Konvois unkontrolliert durch. Vor zwei Wochen habe ich Rostow am Don auf der russischen Seite der Grenze besucht. Dort kann man einfach zum Bahnhof gehen, einen Minibus besteigen und nach Donezk fahren.

Was bedeutet der Begriff „Eskalationsdominanz“, den Sie in Ihrem just erschienenen Buch „Entscheidung in Kiew“ benutzen?
Man instrumentalisiert oder produziert Konflikte, um sie für die Destabilisierung des Gegners zu nutzen. Man ist dem Gegner immer einen Schritt voraus. Man setzt dabei Mittel ein, von denen man weiß, dass der Gegner vor ihnen zurückschreckt, behält so das Heft in der Hand. Im Fall der Ukraine war das das handstreichartige Vorgehen. Putin wusste genau, dass die Nato nicht bereit war, sich zu engagieren, und dass in Deutschland niemand für die Ukraine kämpfen will. Die Produktion von Konflikten, die bei Bedarf zurückgefahren oder verschärft werden können, einen Krieg zu beginnen und sich dann als Retter in der Not anzubieten, darin ist Putin wirklich ein Profi.

Gezielte Eskalation ist ein Muster bei ihm?
Ja, Eskalation, aber auch das Produzieren von eingefrorenen Konflikten. In Transnistrien sind bis heute russische Truppen stationiert, es ist ein Zentrum des Schmuggels, vor allem aber ein Hebel, um den Staat Moldowa nicht zur Ruhe kommen zu lassen und den Beitritt zur EU zu verhindern. Ähnliches gilt für Abchasien und Südossetien. Natürlich gibt es Reibereien und innere Konflikte in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Entscheidend ist aber, ob diese Differenzen von außen am Kochen gehalten werden. Ein großer Teil des georgischen Territoriums ist heute von russischen und prorussischen Kräften besetzt, die Grenze ist faktisch bis an die Autobahn Tiflis–Batumi herangerückt.

Wladimir Putin
Wladimir Putin beim der UN-Konferenz.

© Matt Campbell/epa

Putin nannte schon 2005 das Ende der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Warum überhörte man den aggressiven Unterton?
Putin hatte in einer Hinsicht ja nicht unrecht. Die Auflösung war tatsächlich von Abermillionen Sowjetbürgern als eine Katastrophe erlebt und empfunden worden: Plötzlich gab es Grenzen, wo es nie Grenzen gegeben hatte. Über Nacht war man in den neuen Republiken zu einem Bürger zweiter Klasse geworden. Es gab Pogrome. Für viele blieb nur Flucht oder Übersiedlung. Und ja, es gab eine Erfahrung der Demütigung, des Bedeutungsverlusts. Ich habe viele solche Situationen erlebt, wo Sowjetbürger plötzlich nicht mehr etwa von Kaunas nach Kaliningrad fahren konnten. Die Leute im Bus haben angefangen zu heulen. Insofern ist es wahr, was Putin sagt. Aber es ist auch nicht wahr.

Inwiefern?
Die Diagnose „Katastrophe“ trifft schon gar nicht zu für viele nichtrussische Völkerschaften und Republiken, vom Baltikum bis zur Ukraine. Da war die Stimmung: Wir sind endlich Herr im eigenen Haus. Und selbst für Russland ist die Rede von der Katastrophe nicht zutreffend. In einem bestimmten Augenblick ist das Ende des Imperiums auch als Befreiung von einer Last, als Aufbruch in ein endlich souverän gewordenes Russland verstanden worden. Ich kann mich sehr gut an diese Stimmung nach der Niederschlagung des Putsches im August 1991 erinnern. Es gab eine große Hoffnung auf ein Russland, das sich nicht mehr um Zentralasien oder den Kaukasus kümmern muss.

Wie aggressiv ist Putin?
Er hat kein positives Programm, wie er sein Land aus der Abhängigkeit eines bloßen Öl- und Gaslieferanten lösen kann. Er hat das letzte Jahrzehnt verspielt. Er ist ein Getriebener, der die Flucht nach vorn angetreten hat. Das ist gefährlich und riskant, für die Staatenwelt, aber auch für ihn und sein Land. Er braucht das Gespenst eines äußeren Feindes, um das Land zusammenzuhalten – „negative Integration“ hat das der Soziologe Lew Gudkow genannt. Putin ist, wie man aus seinem Interview zur Annexion der Krim entnehmen kann, stolz darauf, wie professionell er das angestellt hat. Man muss sich auf alles gefasst machen.

Sie haben 2014 die Annahme der Puschkin-Medaille wegen des Ukraine-Krieges abgelehnt. Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Russland?

Puschkin und Putin sind für mich ganz verschiedene Welten. Ich arbeite weiter über ein Land, das mich nun schon ein ganzes Leben lang in Atem hält.

Keine enttäusche Liebe?

Nein. Ich versuche weiter zu verstehen, was in Russland vor allem im 20. Jahrhundert passiert ist. Ich suche das Gespräch, reise, soweit das möglich ist. Die Vorstellung, dass Wladimir Putin das letzte Wort in der russischen Geschichte haben soll, die Fixierung auf ihn, finde ich ganz abwegig. Auch wenn er jetzt eine Zustimmung von 80 oder 85 Prozent hat, weiß ich ganz genau, dass diese 85 Prozent mit einem Krieg gegen die Ukraine nicht einverstanden sind. Deshalb spricht Putin ja auch nie vom Krieg, den er vom Zaum gebrochen hat.

Das Gespräch mit Karl Schlögel führte Christian Schröder.

Der Osteuropaexperte Karl Schlögel.
Der Osteuropaexperte Karl Schlögel.

© picture alliance / dpa

Karl Schlögel, 67, ist einer der bekanntesten deutschen Osteuropaexperten. Er schrieb unter anderem über Moskau, Petersburg, aber auch über das „Russische Berlin“. Bis 2013 lehrte er Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Im Hanser Verlag erschien jetzt Schlögels Buch „Entscheidung in Kiew“ (352 Seiten, 21,90 €, auch als E-Book für 16,90 €), das vom aktuellen Konflikt, aber auch von der Kulturgeschichte des Landes handelt. Außerdem kommt „Der Russland-Reflex“ heraus, ein Gespräch mit der Historikerin Irina Scherbakowa (Edition Körber Stiftung, 144 Seiten, 17 €).

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