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Hugo Claus: Letzte Tage in Mazan

Am 19. März im vorherigen Jahr entschied Hugo Claus, aus dem Leben zu scheiden. Eine Erinnerung von Joachim Sartorius.

Welche Worte würden Hugo Claus heute glücklich machen? Ich weiß es nicht. Wir haben nie über derlei Dinge gesprochen, auch als sein Beschluss schon feststand, aus dem Leben zu scheiden, lange vor dem 19. März letzten Jahres.

Was hat uns, bei allen Begegnungen mit ihm, am meisten beeindruckt? Sein römischer Kopf? Die Kraft in seiner Stimme? Dass seine Reflexivität Kopf und Bauch hatte? Dass seiner vitalen Belesenheit ein Handwerk entsprach, das nicht auf polternde Verdoppelung setzte, sondern Leben in Form brachte? Er war alles anderes als ein Spezialist. Vielleicht war er einer der letzten Renaissancemenschen unserer Zeit. In seinen besten Werken sprechen gleichzeitig mehrere Leidenschaften zu uns: die des Malers, des Dramatikers, des Filmemachers, des Dichters und des Romanschriftstellers. Es gibt im Englischen den Begriff der „towering personality“. So ist es. Er hat alle überragt, ein gewaltiger Baum mit vielen Wurzeln und ebenso vielen Ästen.

Seit seinem Debüt mit 18 Jahren warf Hugo Claus vulkanisch Feuer, Lava und Asche aus: als Autor von Romanen, Erzählungen, Gedichten, Theaterstücken, als Übersetzer von Seneca, Shakespeare und Georg Büchner, als Maler und Zeichner der Künstlergruppe CoBrA, als Regisseur eigener Stücke in Theater und Oper, als Filmemacher. Sein Register schien unendlich, der Wechsel der Stile und Möglichkeiten erfrischend, die Lust am Experimentieren schubhaft und ungebremst.

So war es unfassbar, dass sich in den letzten Jahren nach und nach der Schatten einer Krankheit auf ihn legte. Heute hat Alzheimer keine Geheimnisse mehr. Diese Krankheit kann vielleicht verlangsamt, aber nicht geheilt werden. Hugo Claus war zu stolz, als ein physisches Überbleibsel seiner selbst weiterzuleben.

Ich erinnere mich, bei den letzten Begegnungen in Antwerpen, an seine Wut, wenn er etwas erzählen wollte, aber nach einem Satz nicht mehr weiter formulieren konnte. Dann andere, wunderbar helle Momente, wenn wir das Museum der Schönen Künste in Antwerpen besuchten und er vor den Bildern von James Ensor und Pierre Alechinsky plötzlich frei und genau über Farbe, Licht und Form sprach. Aber in uns allen, seinen Freunden, tickte nun unaufhörlich eine Uhr, die dann aufhören würde, wenn er selbst so allein sein würde, wie man es nur sein kann, im Tod. Cees Nooteboom hat gesagt: „Er ist so davongegangen, wie er gelebt hat, als ein Mann, der weder Gott, noch Meister kannte. Er brauchte keinen Meister, er war selbst einer.“

In meiner Wohnung in Berlin hängt links von meinem Schreibtisch ein von einem braunen Holzrahmen umfasstes Blatt, auf dem – in seiner Handschrift – steht: „Silence, Exile & Cunning“. Ein Zitat von James Joyce. Schweigen, Exil und List. Dieses Blatt hing im Arbeitszimmer von Hugo Claus in seinem Domizil in der Provence, in Caromb, unweit des Mont Ventoux. Offenbar hatte ich es mit so begehrlichen Augen angeschaut, dass er es mir eines Tages schenkte.

Es bedeutet mir viel, diesen Schriftzug in meiner Nähe zu haben. Silence, Exile & Cunning. Ich fragte ihn einmal, was es damit auf sich hat. Er sagte, er identifiziere sich mit Marsyas, jenem Satyr, der mit Apollo in einen Gesangswettbewerb getreten war und unterlag, weil er seinen dionysischen Gesang meckerte und hervorbrüllte und damit – angeblich – das Erhabene profaniert hatte. Hugo Claus ist also der Listige, der im selbst gewählten Exil abseits steht und – ein großer Mann, ein Solitär – von diesem Abseits aus provoziert, spottet, schmäht, ein Narr auch, der nicht glatt und elegant schreibt, sondern expressiv und ungebärdig. Nirgends ist harmonische Ruhe. „Allein im Unvollkommenen /werde ich voll und dick“, lässt er die Göttin Hekate in einem Gedicht sagen, „Schönheit ist kein Gleichgewicht“.

Hugo Claus wird uns nicht verlassen. Sein Werk ist da. Seine Bilder sind da, seine Filme. Für mich stehen im Vordergrund sein Lachen und seine Schalkhaftigkeit. Auch seine Kraft, seine Sinnlichkeit. Er war, ohne Zweifel, ein Nachfahre der sprachmächtigen Dichterpropheten und Bußprediger des drastischen Barocks. Von allen flämischen und niederländischen Schriftstellern ist er der irdischste, der sinnlichste. Die Nähe zu Belgien, zu den Leuten in den Kleinstädten und auf dem Land, steht nicht im Widerspruch zu seiner Belesenheit, zu seiner vitalen Bildung. Als der „Kummer von Belgien“ 1983 erschien, hat Rob Shouten geschrieben, dass man Hugo Claus „als echten Sohn seines Volkes, als Schreiber der Seele einer kleinen Nation kanonisieren und ‚nobelisieren’ könne“.

Hugo Claus kannte sich einfach aus in allen menschlichen Angelegenheiten. Er wusste um unsere Stärken und Schwächen, unsere Versuchungen und Hinfälligkeiten, auch um unsere Liebenswürdigkeiten. Seine List, die Schalkhaftigkeit – sie sind ein Teil dieses Wissens um den Menschen, das ihn auszeichnete. Und dieses Wissen ging einher mit Anteilnahme, Zärtlichkeit und Trauer.

Diese Anteilnahme habe ich erfahren. Mir widerfuhr nämlich das Beste, was einem deutschen Dichterling passieren kann: von Hugo Claus ins Flämische übersetzt zu werden – auf Anregung seiner Frau Veerle. Ich erwähne dies vor allem, weil dieses Unternehmen zu einigen intensiven Begegnungen im Sommer 2001 führte. Hugo hatte die Rohübersetzung gemacht. Wir trafen uns in der Provence, im Garten von Freunden in Mazan. Es war Juli, es war heiß, wir saßen im Schatten unter einem großen Nussbaum und Hugo stellte mir eine spitzbübische Frage nach der anderen. Der Strohhut saß schräg auf seinem dicken Kopf, er trug „une chemise flottante“ – das wir am Abend zuvor in Avignon gekauft hatten. In diesen Gesprächen, in denen er meine Texte besser verstehen wollte, kam ich ihm sehr nahe. Ich verstand seine Liebe zum Wildwuchs der Sprache, ich sah die Narrenkappe, die er trug, ich fing an, das Ungebärdige an ihm zu lieben. Vielleicht habe ich ihn bei diesen Fachsimpeleien ernüchtert, er hat mich berauscht. Er war damals – und er ist es auch heute – ein Zauberer, im Besitz aller Heilmittel und Toxine der Welt.

Der Autor ist Intendant der Berliner Festspiele. Bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlichte er zuletzt den Gedichtband „Hôtel des Étrangers“. – Hugo Claus’ großer Roman „Der Kummer von Belgien“ ist 2008 in einer preisgekrönten Neuübersetzung von Waltraud Hüsmert bei Klett-Cotta erschienen. Das jüngste „Schreibheft“ (Nr. 72, 12 €) enthält einen Schwerpunkt zu Claus.

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