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Der Pianist Igor Levit ist derzeit mit seinem Brahms-Hersch-Liszt-Programm auf Tournee.

© Felix Broede

Igor Levit in der Philharmonie: Innenwelten, Außenwelten

Der Pianist Igor Levit begeistert in der ausverkauften Philharmonie mit einem romantischen Programm, mit Werken von Brahms, Wagner und Liszt - und des Jazzpianisten Fred Hersch.

Igor Levit hat seinen Twitter-Account gelöscht, er hat sein Leben geändert, wie er kürzlich anlässlich des Dokumentarfilms „Igor Levit – No Fear“ erzählte. In den Lockdowns verlor er den Boden unter den Füßen und hat ihn sich neu erkämpft, will anders mit sich umgehen, mit den Freunden, mit Social Media. Er spielte Klavier im Dannenröder Forst, solidarisierte sich mit den Klimaaktivisten von Lützerath, aber er ist zurückhaltender geworden, jedenfalls öffentlich.

Jetzt sitzt er am Flügel in der Berliner Philharmonie und wartet kurz, dass die Unruhe sich legt. Der Saal ist randvoll, die Bänke hinter der Bühne wurden auf zehn Reihen aufgestockt: Seit seinen Twitter-Hauskonzerten im ersten Lockdown hat der 35-jährige Pianist zahlreiche Fans auch außerhalb der Klassikgemeinde.

Zu Beginn die „Sechs Choralvorspiele“ aus op. 122 von Johannes Brahms – Ferruccio Busoni hat die Orgelstücke für Klavier bearbeitet: Levit kehrt das Rhapsodische hervor, weniger das Kontrapunktische als die harmonische Versponnenheit, mit der Brahms die schlichten, klar konturierten Choralmelodien umspielt. Man schließt die Augen und wähnt sich bei einer Jazz-Improvisation, ganz so wie wenig später bei Fred Herschs „Variatons on a Folksong“, jenem Werk, das der amerikanische Jazzpianist eigens für Levit komponiert hat.

Selbstgespräche, Meditationen: Hier wie da katapultiert Levit die in engen Tonschritten kreiselnde, introspektive Musik unvermutet in weite Echoräume hinaus, intensiviert den Puls, lässt auf samtweiche, besinnliche, mit reichlich viel Pedal romantisierte Passagen veritable Wutausbrüche mit unerbittlich hämmerndem Anschlag folgen, driftet ins Dissonante, türmt Akkordmassive auf. Das sechste Choralvorspiel „O Welt, ich muss dich lassen“, todessehnsüchtig wie die vorherigen, ist geprägt vom doppelten Verdämmern bis ins Pianissimo am Ende jeder Verszeile – Levit bewahrt sich die Geste des Verschwindens bis ganz zum Schluss auf.

Auch das Tristan-Motiv in Zoltán Kocsis Transkription von Wagners „Tristan und Isolde“-Vorspiel umgibt er mit konzentrierter Stille. Die berühmteste, weil ambivalenteste Dissonanz der Musikgeschichte dehnt er bis zum Zerreißen, riskiert Löcher im Gewebe – um sie im nahtlosen Übergang zur Einleitung für Franz Liszts einsätzige h-moll-Sonate zu erklären. Das Hauptwerk des Abends, eins der schwersten Werke der Klavierliteratur, greift die schon bei Brahms und Hersch gestellten Fragen auf: Wo bin ich bei mir, wann gehe ich aus mir heraus, was geschieht im Moment des Umschlags?

Wir sehen und hören Levit beim Nachdenken über die Intimität und die Welthaltigkeit von Musik zu, über die Ambivalenzen jeglichen Daseins, vom leise pochenden Anfangsmotiv über die Insistenz des Hammerschlagmotivs und den Wahn des Virtuosen bis zu hinreißend perlenden Tonleiterkaskaden und funkelnden Melodieströmen. Am Ende erstirbt alles Expressive in tiefster Lage, in jenem einsamen Schlusston, nachdem hoch oben die Engel gesungen haben.

Anfangs hatte sich Levit aufmerksam umgesehen, fast erstaunt die über 2000 Menschen rund um ihn herum zur Kenntnis genommen. Als sich das Publikum nach der ersten Zugabe, dem Adagio cantabile aus Beethovens „Pathétique“, erfreut zeigt, weil er sich für eine weitere Zugabe hinsetzt, zeigt er auf sein Tablet mit den Noten. „Da sind drei Gigabyte Noten drin, wird ein langer Abend.“ Replik eines schlagfertigen Konzertbesuchers: „Wir haben Zeit“.

Der kommunikationsfreudige, unterhaltsame Levit ist nicht verschwunden. Dann schickt er uns mit Fred Herschs Bearbeitung von Eliza Doolittles Song „Wouldn’t it be loverly“ aus „My Fair Lady“ nach Hause. Da sehnt sich eine arme, frierende Frau nach einer friedlichen Unterkunft, nach Wärme und Schokolade. Es klingt tröstlich wie ein Wiegenlied – und man denkt an den Krieg in der Ukraine.

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