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Internationale Gemeinschaft: Das globale Gewissen

Die Welt schaut auf Ägypten, Japan, Libyen. Wer ist eigentlich die internationale Gemeinschaft? Dafür, dass niemand so recht weiß, was damit genau gemeint ist, hat der Begriff eine erstaunliche Karriere gemacht.

Die deutsche Ausgabe der Enzyklopädie des Weltwissens namens Wikipedia verzeichnet keinen Eintrag, und die englischsprachige Version lädt die globale Schwarmintelligenz zu weiteren definitorischen Anstrengungen ein. Wer ist die „internationale Gemeinschaft“, die Politiker und Kommentatoren allüberall im Munde führen – und warum wird die Vokabel gerade jetzt so häufig verwendet?

Eher weiß man, was der Begriff alles nicht bedeutet. Er bezeichnet nicht die klassischen Staatenbündnisse von den Vereinten Nationen über die EU und die Nato bis hin zur Arabischen Liga, auch wenn er oft in einem Atemzug mit ihnen genannt wird. Und mit anderen Termini wie „Zivilgesellschaft“ oder „Völkergemeinschaft“ mag er zwar verwandt sein, aber er ist mehr als die Summe dieser Teile. Er funktioniert immer dann als globale Sehnsuchtsvokabel, wenn Menschenrechte, Freiheit und Demokratie eingeklagt werden, mahnt aber zugleich unsere Verantwortung an, diese Sehnsucht auch politisch durchzusetzen. Es ist, als artikulierte sich in der zwar diffusen Vokabel ein globaler Bewusstseinsschub: Die internationale Gemeinschaft - das sind wir ja selbst.

Vor gut zehn Jahren, als die Jahrtausendwende den Blick für die nahe Zukunft schärfte und der Kalte Krieg schon zehn Jahre vorbei war, galt die Rede von der internationalen Gemeinschaft manchen als billiger Mythos, als Fiktion. „Länder unterscheiden sich in Bezug auf Geografie, Geschichte und Machtstrukturen und haben daher radikal unterschiedliche Interessen“, befand etwa der amerikanische NeoCon Charles Krauthammer; höchstens bei Kriegen könne es da mal taktische Allianzen geben. Und der Politikwissenschaftler Werner Link sekundierte, der Begriff stehe bestenfalls für das Alibi-Bedürfnis mächtiger Staaten, ihre Taten mit „höherer Legitimität“ auszustatten.

Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan fasste den Begriff weiter. Angesichts des Völkermords in Ruanda und des Massakers von Srebrenica, denen die Welt tatenlos zugesehen hatte, setzte er in einem Aufsatz 1999 der zweifelhaften Souveränität von kriminell regierten Staaten die „Souveränität des Individuums“ entgegen. Damit meinte er auch den Schutz von Zivilisten gegen Militärgewalt. Außerdem drängte er auf ein neues Gemeinsamkeitsbewusstsein der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung, zumal etwa die Umweltverschmutzung und die Verbreitung tödlicher Waffen keine Rücksicht auf Landesgrenzen nähmen. „Was verbindet uns zu einer internationalen Gemeinschaft? Es ist das Gefühl für die gemeinsame Verwundbarkeit angesichts dieser Gefahren.“

„Unser gemeinsames Schicksal“ war sein Text überschrieben – und dieses Gefühl ist derzeit, geprägt durch zwei fundamentale Weltereignisse, spürbarer denn je. Seit der Atomkatastrophe von Fukushima äußert es sich als globaler Schrecken darüber, dass wir Menschen unseren Planeten von GAU zu GAU Stück für Stück zerstören. Dem steht eine global unmittelbar erfahrbare Hoffnung gegenüber: Sie begann mit der Selbstbefreiung der Tunesier und Ägypter aus der Diktatur und ist mit dem militärischen Stoppzeichen für Gaddafis Mordlust an den Libyern noch lange nicht zu Ende. Durch den Freiheitswillen, der sich in Nordafrika verwirklicht und den gesamten Orient erfasst, ist die arabische Welt plötzlich selber in der Wertewelt der globalisierten Moderne angekommen.

Es ist zuallererst die internationale Gemeinschaft, die sie bei diesem atemberaubenden Abenteuer zu beschützen scheint. Denn so wenig wie die radioaktive Verseuchung das Problem Japans allein ist, so wenig dürfen Diktatoren hoffen, dass sie, geschützt durch das Völkerrecht, auf ihrem eigenen Territorium weiter nach Belieben morden können. In Jemen und Syrien versuchen sie es – aber im Zeitalter global-digitaler Vernetzung tun sie es vor den Augen der Welt.

Das kann nicht ohne Folgen bleiben, zumal der Mut jener, die sich am Tag nach einer von Scharfschützen blutig beendeten Demonstration erneut versammeln, unmittelbar überzeugt. Zwar drohen Rückschläge wie vor zwei Jahren in Iran. Aber mit welcher Begründung nähme die gegen Gaddafi so geschlossene internationale Gemeinschaft die blutige Niederschlagung einer Revolution nun anderswo hin?

Der revolutionärste Erkenntnisprozess dieser politischen Umwälzungen lässt sich bereits in Ägypten besichtigen. Die Abstimmung über die Verfassungsänderung haben die Ägypter unabhängig vom Ergebnis bejubelt: als Beweis dafür, dass die Macht endlich vom Volk ausgeht. Tatsächlich mündet Freiheitsdurst, wenn er sich eine Staatsform gibt, zwingend in Demokratie. Da wirkt es – aller Taktik zum Trotz – umso bahnbrechender, dass auch der Demokratie wenig verdächtige Staaten den Kampf gegen Gaddafi nicht torpedieren. Sogar die Scheichs der Arabischen Liga sind zumindest grundsätzlich dabei, und dass sich China und Russland am 17. März im UN-Sicherheitsrat enthalten haben, bedeutet angesichts ihrer Vetomacht faktisch das Ja zum Militärschlag gegen den libyschen Diktator.

„Es gibt die internationale Gemeinschaft. Sie hat eine Adresse. Sie hat Leistungen vorzuweisen“, schrieb Kofi Annan damals – und meinte vor allem humanitäre Initiativen, aber auch juristische Formen wie die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs. Inzwischen hat die „International Community“ nicht nur der aktuellen Revolutionäre viele Web-Adressen, die als Impulsgeber jedes Ermutigungskreislaufs funktionieren. Sie zuerst schaffen heute das, was man Weltöffentlichkeit nennt. Und weltöffentlich etwa ist der Vorgang, dass Gaddafi trotz mancher organisatorischer und konzeptioneller Defekte seiner militärischen Gegner auch eine Woche nach der Intervention absolut isoliert bleibt.

Sollte da jenes „kollektive Gewissen“ am Werk sein, das Barack Obama im Juni 2009 in seiner Rede in der Kairoer Universität beschwor – die Erleichterung und der Stolz, dass Gaddafi in Bengasi kein Blutbad hat anrichten können, anders als damals die Schlächter von Bosnien und Darfur? Ja, es gibt dieses globale Gewissen, und wahrscheinlich hat es seine Adresse jeweils dort, wo die Wachsamkeit der derzeit so viel beschworenen Internationalen Gemeinschaft wohnt.

In seiner fulminanten Analyse hat Barack Obama in Kairo den Boden für vieles bereitet, was heute trotz aller Gewalt und kriegerischem Feuer Hoffnungen für die arabische Welt und die Welt überhaupt entzündet. Er sprach auch von Demokratie und davon, dass sich „alle Menschen nach bestimmten Dingen sehnen“, nach Meinungsfreiheit und Menschenrechten. Wenn er Amerika jetzt scheinbar heraushält aus den aktuellen Wirren, ist diese Umsicht erneut ihrer Zeit voraus. Solistische Weltpolizisten passen nicht zu einem globalen Bewusstsein, das sich auf gemeinschaftliches Handeln verständigen will.

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