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Deutscher Herbst

© dpa

Interview mit Alexander Kluge: „Die Grausamkeit soll aufhören“

Alexander Kluge im Tagesspiegel-Gespräch über den Film „Deutschland im Herbst“ und seine Angst um die Öffentlichkeit.

Herr Kluge, was ist das stärkste Bild, wenn Sie an den Herbst 1977 denken?

Es gab kaum authentische Bilder. Was man im Fernsehen sieht, in der Zeitung liest oder mit Freunden bespricht, das sind ja alles indirekte Erfahrungen. Nachträglich erscheint mir das als charakteristisch für den Deutschen Herbst. Am meisten berührt mich, wenn ich von heute denke, das Bild Hanns-Martin Schleyers, wie er in Erftstadt als „Gefangener der RAF“ in einer Wohnung sitzt, die beinahe von den polizeilichen Fahndern entdeckt worden wäre. Sie ist eigentlich entdeckt, eine Meldung wird weitergegeben und geht an der Nahtstelle zwischen Bundeskriminalamt und Landeskriminalamt verloren. Das ist etwas Typisches, dass an einer Nahtstelle zwischen zwei Organisationen eine Nachricht verloren geht. Nur dass hier ein Mensch daran stirbt.

Und was ist Ihre stärkste Erinnerung an den Dreh von „Deutschland im Herbst“?

Die Beerdigung der Terroristen auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof und, zwei Tage vorher, die Trauerfeier, das Requiem für Schleyer in der Stuttgarter Domkirche. In der ersten Reihe sitzen Schleyers Witwe und seine Söhne und dazwischen Bundeskanzler Schmidt, er trennt quasi die Kinder und die Witwe.

Helmut Schmidt sagte, diese Stunde gehöre zu seinen schlimmsten Erinnerungen.

Das glaube ich ihm sofort. Man denkt an die Nibelungen, da gibt es einen Toten, Siegfried, der löst den ganzen Zug seiner Getreuen aus, der in Etzels Burg zum Ende der Burgunder führt. Die Witwe und die Kinder haben ihren Mann, ihren Vater aus Gründen der Staatsräson verloren. Diese Entscheidung, den Tod von jemandem in Kauf zu nehmen, der vorher neben uns saß, das ist schon sehr hart.

Wurde Schleyer vom Staat geopfert?

Jemanden, der einem vertraut und den man ausgeschickt hat, kann man nicht mehr zurückholen. Das ist so, wie man die 6. Armee nicht mehr zurückholen kann aus Stalingrad. Kaiser Karl kann den Helden Roland nicht mehr zurückholen – das sind verwandte Geschichten. Es wird ein Vertrauen zerbrochen, das hat Schleyer auch in seinen Briefen dargelegt.

Im Film zitieren Sie aus einem der Briefe: „Wenn Bonn ablehnt, sollen sie es bald tun, obwohl der Mensch gerne überleben möchte. Es ist niemals süß und angenehm, fürs Vaterland zu sterben.“

Schleyer will sich nicht wie ein Tier zur Opferbank führen lassen, er drängt darauf, dass die Bundesregierung eine Entscheidung trifft. Ich glaube, er verstand nicht, wie relativ kühl staatspolitisch sein Fall betrieben wurde. Bei der Entführung von Peter Lorenz hatte der Staat noch nachgegeben und Terroristen ausgeflogen. Das war eine Ermutigung für die RAF. Es ist also klar, welche rationalen Überlegungen auf Staatsseite stattfinden. Die ganze Situation ist aber nicht rational. Und diese Emotionen werden wie in einer Art öffentlichem Theater vorgeführt. Beim Requiem für Schleyer ist unser Team nur einmal aus der Kirche gegangen. Da wurde gerade ein Türke verhaftet, der ein Gewehr hatte, mit dem er eine Taube fürs Abendbrot schießen wollte.

Eine absurde Szene.

Das Großereignis und der Alltag stoßen hier mit sehr starker Reibung aufeinander. Wir bleiben doch Menschen, auch wenn Tragödien geschehen.

Die beiden Beerdigungen rahmen den Film. Am Anfang steht der Staatsakt für Schleyer, mit Burschenschaftlern und Herren in schwarzen Mehrteilern, man sieht die Ex-Nazis Filbinger und Kiesinger.

Als Ex-Nazis würde ich sie nicht bezeichnen, ob Filbinger überhaupt Parteimitglied war, weiß ich nicht. Vielleicht war er ein Reaktionär. Aber es ist eine alte Gesellschaft, die da zusammenkommt.

Die Beerdigung von Baader, Ensslin und Raspe wirkt hingegen wie ein Hippie-Happening unter Polizeistaatsbedingungen.

Die Staatsmacht zeigt ihre Präsenz hoch zu Ross zwischen Bäumen. Theatralisch, obwohl alle wissen, das ist real. Das führt auch auf historische und mythologische Spuren. Es war ja umstritten, dass die Terroristen überhaupt ein Grab bekommen. Bis Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel eine Entscheidung traf. Im Film sieht man ihn als Kind bei der Trauerfeier seines Vaters, Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Das ist eine verräterische Feier, denn der Staat hatte ihn ja gezwungen, Gift zu nehmen, weil er von der Verschwörung des 20. Juli wusste. Die Wehrmacht ehrt den Toten, den sie selber umgebracht hat, das ist Shakespeare. Und dazwischen dieses Kind, der junge Manfred Rommel. Jetzt versteht man besser, warum er 35 Jahre später sagt: Im Tod hört die Feindschaft auf. Volker Schlöndorff hat das im Film in einer „Antigone“-Szene aufgegriffen.

Antigone setzte sich über ein Verbot des Königs hinweg und beerdigte den Leichnam ihres Bruders Polyneikes, der als Verräter galt. In „Deutschland im Herbst“ lehnt ein Rundfunkrat eine Verfilmung des antiken Stoffs ab, weil er „zu aktuell“ sei.

Solche Zusammenhänge herzustellen, dafür fühlten wir uns verantwortlich. Wenn Sie die Parteilichkeit der Filmemacher verstehen wollen: Schlöndorff hat bis zum Schluss verfolgt, wie die Gräber der Terroristen zugeschüttet wurden. Alle anderen sind abgezogen, die Polizei liefert sich letzte Scharmützel mit den Trauernden. Und man sieht die routinierte Arbeit der Totengräber, die die Gräber herrichten, das ist eine Beharrlichkeit.

Das letzte Bild zeigt eine Hippiemutter, die wegzutrampen versucht, unterlegt mit Joan Baez’ Hymne „Here’s To You“, die den hingerichteten Anarchisten Sacco und Vanzetti gewidmet ist. Wo die Sympathien der Filmemacher liegen, scheint klar: bei den Terroristen.

Das sehen Sie, glaube ich, nicht richtig. Die Hippiefrau ist keine Terroristin. Wir haben keine kurze Brennweite reingenommen, um die Gesichter der Polizisten zu verzerren. Und bei der Beerdigung ist nicht nur Joan Baez zu hören, sondern auch das Deutschlandlied in der Fassung von Haydn. Wir zeigen alle Seiten. Unsere Parteilichkeit geht nicht dahin, uns für den Terrorismus auszusprechen. Wir sind aber auch nicht auf Seiten der Obrigkeit, wir sind keine Richter, sondern Beobachter, die Unterschiede darstellen und diese Unterschiede in den 90-Minuten-Zusammenhang eines Films stellen, so dass nicht jeder seine Wahrnehmung separat verwaltet. Dass es eine Öffentlichkeit gibt, ist das Pathos unseres Films.

Rainer Werner Fassbinder diskutiert mit seiner Mutter über die Todesstrafe und zeigt seine Hysterie, als er von Mogadischu und den Selbstmorden in Stammheim erfährt. Radikaler Subjektivismus.

Das ist kein Subjektivismus, sondern reine Empfindung, Fassbinder funktioniert wie ein Radar, ein Seismograph, und zeigt uns seine Intimsphäre, in die die Ereignisse der Außenwelt eindringen. Jeder hat ja etwas, das er vor den Behörden verbergen will. Bei ihm ist es ein bisschen Rauschgift.

Kokain, das er aus Angst vor der Polizei in der Toilette wegspült.

Diese Angst ist ja nicht unbegründet. Der Wettbewerb der Terroristen und der Staatsgewalt um die stärksten Zeichen hat auch etwas Angeberisches, auf beiden Seiten. Wenn dabei Menschen sterben, ist das etwas sehr Tragisches. Weil es Politik falsch definiert.

Hatten Sie auch Angst, dass der Rechtsstaat aus Furcht vor dem Terror Schritt für Schritt aufgegeben wird?

Ich bin Jurist, ich wusste, dass es sich der Rechtsstaat nicht ganz so einfach machen kann. Deshalb hatte ich weniger Angst als Fassbinder. Aber Fassbinder und seine Angst und Schlöndorff, der kaum Angst hatte, gehörten in einen Film. Der Kerngedanke war nicht, Meinungen zu veröffentlichen, sondern Gegenöffentlichkeit herzustellen. In dem Moment nämlich, in dem wir die Öffentlichkeit verlieren, haben wir einen Bürgerkrieg.

Volker Schlöndorff hofft, nach dem 30. Jahrestag nie wieder über die RAF reden zu müssen. Teilen sie diese Hoffnung?

Es gibt ein Motto des Films: „An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es egal, von wem sie ausging. Sie soll nur aufhören.“ Das hat die Hauswartsfrau meines Vaters, eine Mutter von fünf Kindern, Anfang 1945 gesagt, kurz danach wurde Halberstadt im Bombenkrieg zerstört. Sie war es, die mir als Kind die ersten Märchen erzählte.

– Das Gespräch führte Christian Schröder.

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