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IRA-Thriller: Die Kriegerin

Eine Frau auf verlorenem Posten: Im IRA-Psychothriller „Shadow Dancer“ von James Marsh sieht sich eine Terroristin gezwungen, zum Spitzel in ihrer eigenen Familie zu werden.

Eine Frau in der Londoner U-Bahn, langes Haar, blasses Gesicht. Sie steht im Gedränge, ihr Blick streift über die Gesichter der anderen Passagiere, halb nervös, halb verstohlen, und genauso spioniert die Kamera ihr Gesicht aus. Der Wagen rumpelt, die Räder kreischen, das zerrt an den Nerven. Es ist das Jahr 1993, die Frau verlässt die U-Bahn, stellt ihre Tasche auf dem Bahnsteig ab, aber die Bombe explodiert nicht, sie hat den Zeitzünder nicht aktiviert, wie sich später herausstellt. Die Frau, Collette McVeigh, ist Mitglied der IRA.

Wenn das so weitergeht, wird die Berlinale 2012 das Festival der auf sich allein gestellten Frauen. Die Dienstmagd in Versailles, im Eröffnungsfilm „Les adieux à la reine“, die entführte Gaelle in „À moi seule“, Nina Hoss als Petzolds „Barbara“ und nun Andrea Riseborough als Collette: lauter Heldinnen, die auf der Hut sein müssen, die blass sind und undurchdringlich, unnahbar, schweigsam, einsam, unendlich tapfer. Auch Collette muss allem und jedem misstrauen, auch sie umgibt eine lügengespinstige Aura des Mysteriösen, denn sie spielt ein doppeltes Spiel. Nur so hat sie eine Chance in der Zwangslage, in die sie gerät. Collette wird nach dem U-Bahn-Attentat vom britischen Geheimdienst gefasst.

Agent Mac (Clive Owen) bietet ihr einen Deal an. Wenn sie zu Hause in Belfast als Informantin für den MI 5 arbeitet und ihre ebenfalls der IRA angehörenden Brüder bespitzelt, verspricht er ihr eine neue Identität, das Zeugenschutzprogramm, eine Zukunft für sich und ihren kleinen Sohn Mark. Collette willigt ein, andernfalls käme sie ins Gefängnis und der Sohn ins Heim, sie hat keine Wahl. Noch wissen beide nicht, dass Mac damit die Arbeit seiner Chefin durchkreuzt, in Collettes Familie gibt es längst einen anderen Maulwurf. Für Collette wird es lebensgefährlich. Kevin, der skrupellose IRA-Hardliner, foltert auch die eigenen Kameraden, wenn es darum geht, einen Spitzel zu enttarnen.

James Marsh hat mit „Shadow Dancer“ einen Psychothriller über die letzte militante Zeit der IRA gedreht, nach dem gleichnamigen Roman von Tom Bradby, der selbst das Drehbuch schrieb. 1993 stecken die Friedensverhandlungen mit der britischen Regierung in einer heiklen Phase, die Rebellen sind zerstritten, militante Kämpfer wie die McVeighs gibt es nur noch wenige. Zwanzig Jahre zuvor war Collettes jüngster Bruder einer Schießerei zum Opfer gefallen, als er an ihrer Stelle Zigaretten für den Vater holen ging. Ein Trauma, ein Schuldkomplex, mit dieser Szene beginnt der Film.

Das Belfast der neunziger Jahre zeigt Marsh nicht mit den üblichen roten Backstein-Arbeiterhäusern, sondern als Kleinstadt in Grau- und Brauntönen, als ein Ort ohne Freude, voller Angst, Fatalismus, Bitterkeit. Ein düsterer Himmel, triste Hinterhöfe, abgewetzte Existenzen, das verhärmte Gesicht der Mutter. Auch die Geheimdienstbüros sind alles andere als glamourös. Nur einmal, als Mark ein Fahrrad zum Geburtstag bekommt, tollt er mit den Onkels auf der Wiese herum, für einen Moment wird sichtbar, welches Glück Normalität bedeutet und wie radikal es den McVeighs verwehrt ist. Collette will da raus, aber sie kennt seit ihrer Kindheit nichts anderes als die Loyalität gegenüber der Familie und der IRA. Ihr Dilemma bleibt unentrinnbar.

Ein Film von hoher atmosphärischer Intensität: „Shadow Dancer“ lässt den Zuschauer ahnen, wie unfrei Freiheitskämpfer oft sind. Ähnlich wie das Entführungsopfer in „À moi seule“ hält auch Collette sich meist hinter geschlossenen Vorhängen auf, in gesicherten, abgedunkelten Räumen. Sie führt heimliche Telefonate, trifft Mac im leeren Hotelzimmer oder am sturmumtosten Kai, begegnet den IRA-Leuten in schäbigen, angemieteten Wohnungen. Manchmal trägt sie einen roten Mantel, es ist der einzige Farbfleck.

Schade, dass „Shadow Dancer“ nicht im Wettbewerb laufen kann – er feierte seine Weltpremiere auf dem Sundance-Festival, das schließt die Berlinale-Teilnahme aus. Er hätte nämlich Chancen: Bereits zweimal gewann ein IRA-Film den Goldenen Bären, „Im Namen des Vaters“ von Jim Sheridan im Jahr 1993 und „Bloody Sunday“ von Paul Greengrass 2002. Kinostories über Frauen in der IRA gab es bislang ebenfalls nicht. Eine Täterin, die zugleich Opfer ist, eine Mörderin, eine Mutter: Mit ihrer beredten Verschlossenheit, der irrlichternden Präsenz und gleichsam somnambulen Wachsamkeit gehört Andrea Riseborough in der Reihe der Berlinale-Heldinnen 2012, die man so schnell nicht wieder vergisst,

13.2., 10 Uhr (Haus der Berliner Festspiele), 13.2., 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 19.2., 21.30 Uhr (Berlinale Palast)

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