zum Hauptinhalt
Blick von außen. Regisseur Jan-Ole Gerster kommt aus der südwestfälischen Provinz und wohnt im Prenzlauer Berg.

© Thilo Rückeis

Jan-Ole Gerster und sein Film "Oh Boy": Kaffeesatz und Kippenbecher

Vierzig Mal hat er am Telefon nachgehakt, dann hatte er den Job als Produktionspraktikant bei "Good Bye, Lenin!". Jetzt legt Jan-Ole Gerster sein eigenes Debüt vor - den Berlinfilm "Oh Boy" mit Tom Schilling in der Hauptrolle. Eine Begegnung mit dem Regisseur.

Auf dem Weg zum Café noch schnell Zigaretten holen. „Die Zeit haben wir doch?“, fragt Jan-Ole Gerster, ein blonder Schlaks in Anorak und Jeans. Er eilt zum nächsten Kiosk. In seinem Kiez rund um die Schönhauser Allee kennt sich der 34-Jährige aus. Eigentlich hatte der Regisseur aufgehört mit dem Rauchen, doch dann kam vor vier Monaten der Premierenstress. „Oh Boy“, sein Spielfilmdebüt, lief zuerst auf dem Filmfest im tschechischen Karlsbad. Es folgten Einladungen nach München und Paris, bald geht es auf Welttournee nach Los Angeles, Singapur und Marrakesch. An diesem Donnerstag ist Kinostart in Deutschland.

Melancholie liegt über Gersters weit gereistem Berlin-Film, schon im Titel hat sie sich eingenistet: „Oh Boy“, das ist lakonisch, wehmütig, dahingeseufzt. Und gemeint als Zitat aus dem Beatles-Song „A Day In The Life“. Einen Tag im Leben des Endzwanzigers Niko Fischer zeigt auch der episodisch erzählte Film.

Niko Fischer ist ein Slacker, ein antriebsloser, vom Leben geschlauchter Müßiggänger. Vom Vater finanziell ausgehalten, mit Studium und Beziehung gescheitert. Er lebt in Berlin, natürlich. In der Stadt, in der man lange schlafen, in den Tag hineinleben und von „Projekten“ und „Terminen“ reden kann – und dabei hat man eigentlich nix zu tun. In so einem Film muss ausdrucksstark geraucht werden, und umso besser, wenn die Melancholie ihm alle Farben ausgesaugt hat, wie in „Oh Boy“. Und dann auch noch alles in Schwarz-Weiß! Davor hatten Gerster manche gewarnt. „Genau das Gegenteil ist der Fall: Schwarz-weiß wird als Alleinstellungsmerkmal wahrgenommen.“ So kann’s gehen, und Gerster scheint noch immer erstaunt darüber.

Sein Drehbuch wurde im Juli beim Filmfest in München mit einem Preis und 10 000 Euro ausgezeichnet. Mit der Arbeit daran hatte Gerster vor fünf Jahren begonnen. Da war eine Figur in seinem Kopf, die viel mit ihm selbst zu tun hatte: Ein junger Mann, der sich verrannt hat, alles in Frage stellt, der beobachtet und über seine Umwelt staunt. So einer wie Benjamin Braddock aus der „Reifeprüfung“ oder Holden Caulfield, der Antiheld des „Fängers im Roggen“. Doch das Drehbuch verschwand wieder in der Schublade, für Monate. Als er einen Produzenten gefunden hatte, die Finanzierung geklärt war, kam plötzlich ein langjähriger Freund von Gerster für die Hauptrolle in Betracht: Tom Schilling, der ewige Jüngling des deutschen Films, war Vater geworden – und auch äußerlich gereift. Schilling war einer der Ersten, denen Gerster das Drehbuch zum Lesen gegeben hatte, „und er hat mir klargemacht, dass er die Rolle wahnsinnig gerne spielen würde“, sagt der Regisseur. Sogar einen fünfseitigen Brief schickte Schilling dem Freund, um das zu beweisen. Mit Erfolg.

Für den Rest der Besetzung schrieb sich Gerster eine Wunschliste, noch voller Demut. „Der alte Mann müsste sein wie Michael Gwisdek, der Vater so wie Ulrich Noethen“, dachte er sich. Tom Schilling ermunterte ihn, bei den Agenturen anzufragen – und am Ende stand eine für einen Erstlingsfilm respektable Besetzungsliste: Gwisdek und Noethen sagten zu, außerdem Frederick Lau, Friederike Kempter, Justus von Dohnányi und Katharina Schüttler. Am Ende war es ein „Fans- und-Family-Projekt“, wie es Jan-Ole Gerster nennt. Da durfte auch „Konsti“ nicht fehlen, der Musiker Konstantin Gropper, bekannter unter dem Namen Get Well Soon. Er steuerte den Titelsong bei, ein getragenes Lied mit sonorer Stimme.

Der Rest des Soundtracks ist Jazz. Noch so ein Wagnis. „Das ist die Musik, die ich mit der Stadt assoziiere. Jazz unterstreicht eine gewisse Ironie und kommentiert das Treiben in Berlin auf sehr eigene Art“, sagt Gerster.

Die Begeisterung für die Großstadt ist bei ihm so alt wie die Liebe zum Film. Im Jahr 2000 kam er nach seinem Zivildienst und der Ausbildung zum Rettungssanitäter aus der südwestfälischen Provinz nach Berlin. Vierzig Mal hatte er bei der Produktionsfirma X-Filme angerufen, bis man ihn endlich zum Bewerbungsgespräch einlud. Ein halbes Jahr Praktikum, dann war er Assistent von Wolfgang Becker bei „Good Bye, Lenin!“. „Wir hatten überlegt, auf die ‚Oh Boy‘-Plakate draufzuschreiben: Vom Praktikanten des Regisseurs von ‚Good Bye, Lenin!‘“, sagt Gerster und grinst.

Anschließend ging er an die Deutsche Film- und Fernsehakademie und studierte Regie und Drehbuch. „An der Schule für Langzeitstudenten“, sagt Gerster ein bisschen verschämt. „Oh Boy“ gilt als sein Abschlussfilm, produziert mit schmalen 300 000 Euro. Ein ungewöhnlicher Film, nicht nur wegen der schwarz- weißen Bilder und des jazzigen Soundtracks. Denn er hat einen ausgesprochen passiven Helden, dem mehr geschieht, als dass er selbst handelt.

Im Café bestellt Gerster zum Gespräch einen einfachen Filterkaffee mit einem Schuss Milch. So wie ihn seine Filmfigur Niko Fischer gerne hätte – und partout nicht bekommt. Der Filterkaffee ist mehr als ein Heißgetränk, er ist eine Metapher für das Berlin, das Gerster kennt. Und wie er es zeigen wollte. „Das zuplakatierte, laute, von Baustellen durchsetzte, schnoddrige Berlin“ nennt er es und bekennt sich zum nostalgischen Blick auf die Stadt. „Diese aufgesetzte Hipster-Attitüde ist mir fremd“, dieses Bild von Berlin mit Leuten, die auf Hausdächern im Sonnenuntergang zu Elektrobeats tanzen.“

Wenn Gerster erzählt, flieht sein Blick durch das große Schaufenster des Cafés auf die belebte Kreuzung am U-Bahnhof Eberswalder Straße. Er hat Spaß daran, Leute zu beobachten und deren Verhalten zu decodieren. Das wird auch in seinem Debütfilm deutlich. Der strotzt nur so vor skurrilen Nebenfiguren, die zugespitzt erdacht sind, pointiert, aber nicht holzschnittartig. Da ist der Off-Theater-Choreograf mit fettigen Haaren und Tropfenbrille, der über „staatlich subventionierte Mainstream-Scheiße“ und die „Berliner Sonderschule“ herzieht. Frederick Lau als Proll der Marke Trainingsjacke, Goldkettchen, Wodkaflasche, Gel im Haar. Und Arnd Klawitter als schmierig-jovialer Schauspieler, der in einer „Drittes-Reich“Schmonzette den geläuterten Nazi mimt. „Das basiert doch hoffentlich auf einer wahren Begebenheit?“, fragt Niko Fischer und erhält die Antwort: „Zweiter Weltkrieg halt.“

Der Blick auf Berlin und seine Gestalten fällt den Zugezogenen leichter als den Einheimischen. Das glaubt zumindest Hauptdarsteller Tom Schilling. Er selbst ist in Mitte geboren, hat nie länger als ein halbes Jahr in einer anderen Stadt gewohnt. „Wenn ich den Film anschaue, dann sage ich mir: Aha, in dieser Stadt wohne ich also.“ Bei Gerster, der von außen nach Berlin kam, seien die Sinne viel geschärfter, er erkenne viel eher, was das Besondere an der Stadt ist.

Als Jan-Ole Gerster nach seinem Filterkaffee noch eine raucht, draußen vor dem Café, wo die Hochbahn kreischt und die Presslufthämmer dröhnen, da fällt ihm eine alte Frau auf, die gebückt und langsamen Schrittes die Straße überquert. „Die kenne ich“, sagt er, „die ist fast blind, die Arme.“ Er hat einen Blick fürs Abseitige, für die Randfiguren der Stadt. Das lässt hoffen, auch für die nächsten Filme.

„Oh Boy“ läuft ab Donnerstag im

Cinemaxx, Delphi, FaF, Hackesche Höfe,

International, Kulturbrauerei und Yorck

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false