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Suchbild. Wo verbirgt sich hier einer der bedeutendsten Wissenschaftler Amerikas, kurz vorm Aufbruch zu einer Ehrung in Washington? Ganz einfach: T. S. Spivet (Kyle Catlett) ist in der Bildmitte unterwegs, gefolgt von Verywell, dem sprechenden Hund.

© DMC/Jan Thijs

Jeunet verfilmt Larsens "Die Karte meiner Träume": Der Mann im Kind

Ein erfindungs- und abschweifungsreiches Buch alias Film - "Amélie"-Regisseur Jean-Pierre Jeunet verfilmt Reif Larsens „Die Karte meiner Träume“. Was unseren Autor zu allerlei Komplimenten hinreißt.

Ein page turner, wie die Angelsachsen so plastisch über ein Werk sagen, das man auf das Begierigste durchliest, ist „Die Karte meiner Träume“ nicht gerade. Nicht nur wegen seines stattlichen Gewichts von 1028 Gramm (gebundene Ausgabe), das die Kopfkissenbuch-Lektüre beschwerlich macht, oder wegen seiner Maße, die hier im Sinne seines jungen Helden T. S. Spivet präzis genannt seien: 24,6x18x3,8 Zentimeter. Sondern vor allem wegen der zahlreichsten Skizzen und Anmerkungen, die die äußeren Seitendrittel füllen und den Leser zum Vagabundieren zwischen Haupttext und Nebennoten einladen – verführerisch und einschüchternd zugleich.

So lag der raumgreifende und bildchengewaltige Debüt-Bestseller des damals knapp 30-jährigen Amerikaners Reif Larsen rund fünf Jahre in meinem Regal, bevor ich es nun endlich zur Hand nahm – und nicht „in einer Nacht verschlang“, wie es die Verlagswerbeleute gerne hören; wohl aber genießerisch studierte, bis zum Ende des ersten Teils immerhin, Seite 121 von 436 Seiten. Am liebsten hätte ich es zwar ausgelesen bis zur Pressevorführung von Jean-Pierre Jeunets allerneuester Tüftelträumerei – aber das Gewicht! Und erst die zauberhaften Randspalten, von denen ich bald keine einzige mehr verpassen wollte! Ja, sollte es auch hier so sein wie im sonstigen Leben, dass die Nebensächlichkeiten die eigentliche Hauptsache sind?

Dann kam der Film dazwischen. Der macht es einem, wie jede Literaturadaption, ja insofern leicht, als man in zwei Stündchen auch die gewaltigste Geschichte runterbebildert bekommt. Andererseits, Kompliment Nr. 1 an den Regisseur, geht Jeunet, anders als in seiner legendären „Amélie“, hier mit inspirierender Langsamkeit zu Werke; und die Entscheidung für 3-D – und es ist ein 3-D, das dem Zuschauer endlich einmal nicht massiv die Leinwand verdunkelt – überzeugt besonders, weil sie das Spielbaukastenprinzip der Romanseiten nahezu kongenial auf den zusätzlich eroberten Leinwandraum überträgt.

Großes Staunen in Washington

Spätestens an dieser Stelle sollte nun ruckzuck die konzise Inhaltsangabe des erfindungs- und abschweifungsreichen Buchs alias Films einsetzen, doch halt, hier schnell Kompliment Nr. 3: Jeunet hat die textlich schönsten, mal kindlich albernen, mal charmanten, mal zart tiefsinnigen Randnotizen Larsens elegant in den Voice Over transponiert – und, soweit sich das im unmittelbaren Vergleich sagen lässt, nichts Wesentliches ausgelassen.

Jetzt aber: T. S. Spivet wächst an der Wasserscheide der Rocky Mountains auf einer Ranch auf, der Vater lebt sein Cowboy-Leben, die Mutter ist Käferforscherin, die ältere Schwester Gracie pubertär – und der geliebte Bruder Layton leider umgekommen bei einem Unfall, an dem T. S. sich die Schuld gibt.

Tragödie? Komödie? Beides – und bald geht es auf die Reise, denn der kleine Tüftler soll für seine beim legendären Washingtoner Smithsonian-Museum eingeschickten Diagramme und Illustrationen einen Preis bekommen. Also: Abenteuer. Also: Güterzug. Also: Hobo. Also: der Blick durch das weite, sich immer mehr verstädternde Land. Und großes Staunen in Washington über das Wunderkind, das man für einen Erwachsenen gehalten hatte. Und souveräne Preisrede, Medienrummel, Familie reist nach, alle happy.

Ein so unverwechselbarer Film darf konventionell enden

Bevor ich aber Buchfragment und Restfilm ganz durcheinanderbringe: Im Roman ist der Held vernünftigerweise zwölf, im Film spielt der neunjährige Kyle Catlett einen Zehnjährigen und sieht aus wie acht, aber das macht nichts. Und dass T.S. Spivet im Film das unerfindliche Perpetuum mobile erfindet, ebenso wenig. Etwas unschöner vielleicht, dass Jeunet am Ende die Erwachsenen, allen voran die Smithsonian-Kuratorin (Judy Davis) kinderfilm-witzboldenhaft zeichnet und sich überhaupt auf eine etwas stumpf-schrille Anti-TV-Satire verlegt. Dabei hatte das, mit den zwar schrulligen, aber liebenswerten Eltern (Helena Bonham Carter, Callum Rennie) so fein angefangen, und mit Niamh Wilson als Gracie sowieso.

Andererseits: Jeunet redet – hatte er auch hierfür den Director’s Cut? – in seinem langen, ungewöhnlich offenherzigen Presseheft-Interview auch über manch dramaturgisch nötigen Kompromiss gegenüber der ausufernden literarischen Vorlage. Und warum darf ein Film, der in Tonfall, Rhythmus und Bildfindungen so unverwechselbar beginnt, nicht zumindest ein bisschen konventionell enden? Jeunet mag da weniger wagen als seine wesensverwandten Kollegen Michel Gondry und Wes Anderson, aber – Kompliment 5 oder 7 – richtig böse drüber mag ich ihm nach dem traumsicheren Anfang nicht sein.

Und da bleiben ja noch die ungelesenen, unausgepuzzelten 315 Seiten des Buchs. Klar kommt es mit ins Sommerreisegepäck, versprochen, kleiner T. S., fest versprochen.

In 13 Berliner Kinos; OV im Cinestar Sony Center, OmU im Rollberg und in den Hackeschen Höfen

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