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Judith Hermann, 44

© Andreas Labes/Verlag

Judith Hermanns neues Buch: Schrecken im Vorort

Veränderung ist kein Verrat, und mit den Provisorien hat es ein Ende: Judith Hermann veröffentlicht mit „Aller Liebe Anfang“ ihr Romandebüt.

Der Titel dieses lang erwarteten, allerersten Romans von Judith Hermann ist ein schöner, wohlklingender: „Aller Liebe Anfang“ heißt er, und da denkt man vor der Lektüre sofort, es hier mit einem veritablen Liebesroman zu tun zu haben. Mit einem Roman über die Ursprünge einer Liebesbeziehung, einer zunächst gelingenden – Liebe ist ja ein stets positiv konnotiertes Wort –, die sich wie auch immer entwickelt. Dem ist aber nur ganz am Anfang dieses Romans so, als sich die Heldin und ihr zukünftiger Mann, die wie alle Judith-Hermann-Figuren nur einen Vornamen tragen, Stella und Jason, während eines Fluges kennenlernen.

Danach ist man schon mitten in der Liebe, gewissermaßen bei „Aller Liebe Fortgang“, da bildet die Liebe nur noch die Folie für andere Unwägbarkeiten des Lebens. Stella und Jason wohnen in einer Siedlung am Stadtrand, in einem Haus mit zwei Stockwerken, eine Tochter ist geboren worden, Ava, drei, vier Jahre alt, und als gelernter Fliesenleger ist Jason häufig unterwegs und kommt oft nur an den Wochenenden nach Hause. Stella macht das Alleinsein nicht viel aus, sie genießt das eher, zudem hat selbst sie einen Beruf, der sie durchaus in Anspruch nimmt. Sie ist Krankenpflegerin und kümmert sich um die ebenfalls nachnamenlosen Esther, Walter, Julia und Dermot.

Es passiert hier bald etwas, das ahnt man schnell. Darauf deutet schon ein Satz im Prolog hin, „Stella hätte damals schon verstehen können – sie hat Angst, und Jason schläft“; aber auch die sehr detailgenaue Schilderung der vermeintlichen Vorort-Idylle. Ein Mann aus der Nachbarschaft, den Stella nicht kennt, tritt auf den Plan, klingelt bei Stella, will sich mit ihr unterhalten, beobachtet sie Tag für Tag, stellt ihr nach, weiß, wann sie allein zu Hause ist und wann nicht: ein Stalker, in Folge Mister Pfister genannt.

Man kann "Aller Liebe Anfang" auch als Stalking-Roman bezeichnen

Judith Hermann hat mit „Aller Anfang Liebe“ also vordergründig einen Stalking-Roman geschrieben, in dessen Zentrum Stella als Opfer steht. Es fällt ihr schwer, das Problem als solches anzugehen, überhaupt damit umzugehen, und sie braucht lange, um die Polizei zu verständigen. Allerdings hat man nie den Eindruck, Hermann würde sich für ihr Thema wenn schon nicht als gesamtgesellschaftliches Phänomen, dann doch als ein Problem interessieren, das eine ganze Familie betrifft, ihr Leben völlig auf den Kopf stellt und gar zerstören kann, so wie es Dirk Kurbjuweit in seinem Roman „Angst“ getan hat. Dafür braucht Stella viel zu lange, um zu handeln, dafür wirkt ihr Mann, dem sie Briefe und anderen von Mister Pfister in den Postkasten gesteckten Zuneigungskrimskrams zeigt, lange sehr unbeteiligt.

Auch dass es hier tatsächlich um „die Zumutungen der Liebe“ und die „Schutzlosigkeit im Leben“ geht, wie der Klappentext zupackend interpretiert, trifft es nur halb. Gerade Letzteres schwingt natürlich mit, aber Hermann stattet ihre Stella zudem mit den widersprüchlichsten Gefühlsregungen aus, gerade was ihr geregeltes Leben in der Vorortsiedlung betrifft. Da denkt sie dann schon mal „erbittert“ darüber nach, „dass ihr im Leben ein Provisorium nach dem anderen abhandengekommen war“. In Briefen an die beste Freundin Clara fragt sie sich, ob sie das, was sie jetzt hat, wirklich wollte, „wie weit ist dieses Leben entfernt von dem Leben, das wir uns vor zehn Jahren vorgestellt haben“. Oder sie spürt „eine unmäßige, lastende Trauer, eine Sehnsucht nach einem anderen Leben oder einem Leben, das sie einmal hatte, welches Leben genau, sie kann sich nicht erinnern“.

Stella erinnert bei solchen Sätzen deutlich an die Figuren, die Judith Hermann in ihren 2001 und 2003 veröffentlichten Erzählbänden „Sommerhaus, später“ und „Nichts als Gespenster“ zuhauf porträtiert hat. Damit wurde die 1970 geborene Berliner Schriftstellerin zu einem Star der Gegenwartsliteratur, zur „Stimme ihrer Generation“. Ein Jahrzehnt später aber ist an die Stelle des verträumten, ziellosen, slackerhaften Lebensstils von damals ein sehr konkretes Alltagsleben getreten, mit Familie, Haus, Job und Internet-Skepsis („gottverdammtes elendes Netz“, heißt es zweimal). Und eben einer all das aus dem Gleichgewicht bringenden Bedrohung namens Mister Pfister.

Judith Hermann hat sich in ihren bislang drei Büchern (2009 erschien noch „Alice“, ebenfalls ein Band mit Erzählungen) als Meisterin des Vagen und Unbestimmten erwiesen. Das demonstriert sie nun auch in ihren Romandebüt: Es bleibt gekonnt in der Schwebe, ob Mister Pfister der Auslöser für Stellas Zweifel an dem von ihr gerade geführten, womöglich gar nicht gewollten Leben ist – oder die Zweifel nicht sowieso zur Grundausstattung ihres Charakters gehören.

Stella stellt sich viele Fragen - ohne dass Judith Hermann diese mit Fragezeichen versehen würde

Diese Indifferenz zeigt sich auch sprachlich. Stella stellt sich viele Fragen, ohne dass diese von Judith Hermann ein Fragezeichen bekämen, weil es keine Antworten darauf gibt oder sie sich von selbst verstehen: „Wo kommt er her um diese Zeit“ (gemeint ist Mister Pfister). Oder: „Was bedeutet die Auswahl dieser Fotos (...) Was bedeutet Jasons Abwesenheit“. Sätze wie dieser fallen umso mehr auf, als Hermann nicht durchgängig auf Fragezeichen verzichtet.

Die Wahl der Zeitform passt in dieser Hinsicht ebenfalls. Das Präsens, in dem der Roman durchgängig erzählt wird, sorgt zwar für Nähe, auch für eine gewisse Spannung und Tempo; trotzdem unterstreicht es das Glasglockenhafte von Stellas Welt, das Hermetisch-Festgefügte, das ihr oft gar nicht so lieb ist. Der Stalker zerschlägt das alles, nur dass „seine“ Stella „eine imaginierte Stella“ ist: „Stella begreift, dass sie dagegen nichts tun kann. Sie kann Mister Pfister diese Stella nicht nehmen.“

Zunehmend auf den Nerv geht allerdings das unablässige Beschreiben noch der unwichtigsten Dinge. Es erschließt sich nicht, dass die Unterhemden auf der Leine auch „zierlich“ sein müssen oder das Kleid „gelb“. Oder warum Stella für sich und ihre Arbeitskollegin Paloma nicht nur Becher „mit einem Tiger“ und der Aufschrift „destroy something“ nimmt, sondern sie auch noch auf „zwei Löffel Kaffee“ das Wasser gießt und „Kaffeeweißer“ dazurührt. Oder dass das Wenige, das Stella einmal im Supermarkt kauft, genau benannt werden muss: „Sie möchte Milch, Eier, Buchstabennudeln, Butter kaufen, mehr nicht.“ Zwei Seiten später, nach einer Begegnung mit Mister Pfister in eben jenem Supermarkt, heißt es: „Sie kauft Milch, Eier, Buchstabennudeln, Butter, das, was sie kaufen wollte, nichts mehr, nichts weniger.“

Es fragt sich bei derlei Überflüssigkeiten, ob es eine längere Erzählung nicht auch getan hätte. Man ist dann aber ganz einverstanden, als die Mister-Pfister-Geschichte sich noch einmal zuspitzt. Und als Stella Jahre später um die Möglichkeit weiß, „Orte zu verlassen, Versprechungen fallen zu lassen“ und erkennt: „Veränderung ist kein Verrat.“ Selbst ein Stalker kann also eine Judith-Hermann-Figur in eine neue Lebensspur setzen.

Judith Hermann: Aller Anfang Liebe. Roman. S Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2014. 219 Seiten, 19, 99 €.

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