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Vignette aus dem Roman "Sally Jones - Mord ohne Leiche".

© Jakob Wegelius

Kinderbuch: Der Mensch ist das böseste Tier

Episch: In „Sally Jones – Mord ohne Leiche“ folgt eine Gorilladame einem Kriminalfall bis nach Indien.

Szenen einer Treibjagd, Jagdgeschichten aus Lissabon. „Seht mal! Da ist er ja!“, schreit einer, und die Meute dreht sich um. Setzt sich in Bewegung, rennt. Wut hängt in der nächtlichen Luft, sie will kurzen Prozess machen. Lynchjustiz. Der Gejagte läuft in die Rua do Salvador, sieht schon das Kneipenschild des „O Pelicano“, einer möglichen Zuflucht. Doch die Leute rufen: „Haltet ihn!“, verstellen ihm mit ausgestreckten Armen den Weg. „Mein Herz hämmerte wie wild. Ich rannte in einen offenen Torweg. In einer Ecke gab es eine Regenrinne. Ich fing an, nach oben zu klettern. Einige Minuten darauf saß ich zusammengekrümmt etliche Dächer weiter. Ich zitterte am ganzen Leib. Und mein Herz schlug noch immer laut und schnell.“

Jakob Wegelius ist auch ein begnadeter Zeichner.
Jakob Wegelius ist auch ein begnadeter Zeichner.

© Jakob Wegelius

Man muss dazu sagen, dass es sich bei der Heldin von Jakob Wegelius’ Jugendbuch „Sally Jones – Mord ohne Leiche“ um eine Gorilladame handelt. Ihr Arbeitgeber, eigentlich mehr ein Freund, der Schiffskapitän Henry Koskela, genannt „Chief“, soll einen Mord begangen haben, als er einen Mann ins Hafenbecken stieß. Deshalb wird die Primatin gehetzt, und die wohlmeinenderen Verfolger fordern, sie einzuschläfern oder in den Zoo zu stecken. Eine Horrorvorstellung. Deshalb wird Sally die nächsten Tage auf den Dächern der Alfama, der Altstadt von Lissabon, verbringen. Dann will sie wieder herunterklettern und den Chief retten.

„Es war ein gutes Leben“, so erinnert sich die Gorillafrau. Gorillas können nicht sprechen, aber dieser Gorilla kann schreiben. Er kann auch Maschinen reparieren, Werkzeuge schmieden und hervorragend Schach spielen, was ihn später aus einer brenzlichen Situation herausbringen wird. Sally Jones bringt diesen 600-Seiten-Bericht, den der Leser vor sich hat, auf ihrer Schreibmaschine des Modells Underwood No. 5, Baujahr 1908, zu Papier. Das Schreiben, hofft sie, wird sie von ihren Albträumen befreien.

Faszinierende Zeichnung von Jakob Wegelius.
Faszinierende Zeichnung von Jakob Wegelius.

© Jakob Wegelius

Anfangs ist sie noch als Maschinistin mit dem Dampfer „Hudson Queen“ des Chiefs unterwegs, schleppt Kohlensäcke und hofft auf gute Frachten. Koskela hat ihr zwei Mal das Leben gerettet, einmal auf einem Schiff namens „Otago“, auf dem sie als blinder Passagier entdeckt wurde und über Bord geworfen werden sollte, und einmal im Hafenviertel von Singapur, wo sie in einer Kneipe an einen Pfosten gekettet war, bis der Chief sie freikaufte. Wie sie unter die Menschen geraten ist, weiß Sally nicht mehr. Aber von den Menschen hat sie vieles gelernt. Wie man stiehlt und betrügt, was Gier und Grausamkeit sind.

Das Leben war gut, obwohl die „Hudson Queen“ lange im Hafen von Lissabon festliegt und Frachtaufträge ausbleiben. Danach fangen die Albträume an. Sie nähern sich in der Spelunke O Pelicano in Form eines blassen, schmalgesichtigen Mannes, dessen Augen unter der Hutkrempe glänzen. „Ich habe gehört, Sie haben ein Schiff“, raunt der Schleicher, der behauptet, Morro zu heißen. „Es geht um einige Kisten.“ Sein Angebot kann der Chief nicht ablehnen.

Jakob Wegelius ist auch sein eigener Illustrator.
Jakob Wegelius ist auch sein eigener Illustrator.

© Abbildung: Jakob Wegelius

Kurz danach nimmt die „Hudson Queen“ in einem Provinzhafen schwere Kisten an Bord, in denen sich Azulejos befinden, prachtvoll bemalte Keramikfließen. Allerdings entpuppen sie sich als Waffen, Schiff und Besatzung werden von unrasierten Gangstern gekidnappt, das Schiff explodiert und sinkt. Von Anarchisten und Republikanischen Garden ist die Rede, wir befinden uns offenbar in den Tagen des Spanischen Bürgerkriegs.

Der angebliche Morro ertrinkt, weshalb der Chief im Gefängnis landet. Und Sally Jones beginnt eine Weltreise, um den wahren Täter zu finden. Dabei begegnet sie einem Kamel mit drei Höckern und einem indischen Maharadscha, mit dem sie im Doppeldecker fliegt.

Jakob Wegelius, auch sein eigener Illustrator, hatte schon 2009 von einer Weltreise seiner Gorilla-Heldin erzählt. Diesmal wird er episch, mit einem Abenteuerroman, der sich zum Thriller wandelt. Die Handlung macht Umwege, der Leser erfährt alles über Akkordeonbau oder Schraubenschlüssel, was er wissen muss, aber den Drive verliert sie nie. Das böseste aller Tiere, so lautet die Bilanz der Fabel, ist der Mensch.

Jakob Wegelius: Sally Jones – Mord ohne Leiche. Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2016. 619 Seiten. 19,95 Euro. Ab zehn Jahren.

Weitere Rezensionen finden Sie auf unserer Themenseite.

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