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Thomas Harlan

© Real Fiction

Thomas Harlan: Die Waffe Wahrheit

Ein Dokumentarfilm, eine Biografie, ein Prosaband. In Christoph Hübners Doku "Wandersplitter" erzählt der Autor, Theatermann, Filmemacher und politische Aktivist Thomas Harlan seine Geschichte.

Panoramafenster öffnen den Breitwandblick auf eine grüne Voralpenlandschaft. Ein Mann tippt ein paar Worte in den Laptop und setzt sich zum Interview mit den angereisten Filmemachern bereit. Die Landschaft draußen ist mit dem Obersalzberg im Hintergrund historisch schwer aufgeladen. Der Mann drinnen hat als Kind oft mit Goebbels zu Abend gegessen. Thomas Harlan ist der Sohn des Regisseurs Veit Harlan, der sich 1949 für Filme wie „Jud Süß“ wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht verantwortete und freigesprochen wurde.

Der verantwortliche Richter hatte schon vor 1945 an einem Hamburger Sondergericht gewirkt. Auch sonst erlebte der 1929 geborene und nach eigener Auskunft als „Knabe am Hofe“ Hitlers aufgewachsene Thomas Harlan deutsche Kontinuitäten hautnah: Späten Verehrern des väterlichen Schaffens entzog er sich 1948 durch Flucht in die Pariser Bohème, wo Gilles Deleuze und der Maler-Dichter Sabathier-Lévêque zu seinem Umfeld gehörten und Klaus Kinski sein Freund wurde, mit dem er 1952 für ein Filmprojekt nach Israel reiste. Mit seinem ersten, 1958 in Berlin uraufgeführten Theaterstück über das Warschauer Ghetto machte er sich in der Heimat viele Feinde. Harlan ging für fünf Jahre zu Archiv-Recherchen nach Warschau, von wo er deutsche Staatsanwaltschaften mit Material gegen Kriegsverbrecher belieferte – bis er entdeckte, dass die deutschen Verfolgungsstellen mit Ex-Nazis durchsetzt waren. Das mit dem italienischen Verleger Feltrinelli geplante Buch über „Das Vierte Reich“ blieb unveröffentlicht. Und der parteilose Kommunist stürzte sich in ein neues Leben als reisender Weltrevolutionär zwischen Italien, Chile, Vietnam und Portugal, bevor er mit dem filmischen RAF-Nazi-Doppel „Wundkanal / Unser Nazi“ 1984 erneut für Skandal sorgte.

Seit 2000 lebt Harlan krankheitsbedingt in einem Zimmer jenes bayerischen Lungensanatoriums, in dem die Dokumentarfilmer Christoph Hübner und Gabriele Voss ihn besuchten. Ein unfreiwilliges Exil, in dem er sich mit den Romanen „Rosa“ und „Heldenfriedhof“ Welt und Sprache noch einmal neu erarbeitet hat. Hört man Harlan hoch oben über dem Tal seine Geschichte erzählen, die in großen Teilen auch die Geschichte dieses Landes ist, kann man kaum anders, als sich diese Klause auch als einen magischen Ort vorzustellen, an dem sich politische Erfahrung in sprachliche Erkenntnis verwandelt.

Hübners Film kommt in Deutschland fast zeitgleich mit Harlans Prosaband „Die Stadt Ys“ und einer ungewöhnlichen Biografie von Jean-Pierre Stephan heraus: ein in Buchform gegossenes, mit Informationen gespicktes langes Interview. Auch die Form des Films – ein durch wenige Fragen und Fensterblicke gegliederter Monolog – entspricht seinem Protagonisten, der als begnadeter Erzähler aus dem Stand präzise, anschauliche Worte und Wendungen findet. Dass im Film dabei gelegentlich der Eindruck des egomanischen Schwadroneurs entsteht, liegt daran, dass sich die Regisseure in fast schweigender Verehrung üben. Buchautor Stephan dagegen gibt bei aller Faszination auch Kontra.

Es ist bezeichnend für Harlans Arbeitsweise, dass er seine literarischen Fiktionen mit Recherchematerial auflädt. Deshalb finden sich im Dokumentarfilm wie in den beiden Büchern Themen und Texte, die sich zum Teil wörtlich wiederholen. Aus dem Kapitel „Geschichte ohne Ich“ in Hübners Film ist die Erzählung „Moskau, Montag 17. Dezember 1953“ geworden, in der ein junger Deutscher bei einem den Bewachern abgetrotzten Busausflug in die sowjetische Metropole auf mysteriöse Weise in die Geschichte eingesogen wird. Oder die unglaubliche „Vaterländische Tanzschule für Hautflügler“ im vietnamesischen Muong Thanh, die sowohl in Stephans Biografie wie in „Die Stadt Ys“ Erwähnung findet. Überhaupt finden sich in den Texten des Prosabands aus der scheinbar versunkenen Welt des sowjetischen Imperiums zwischen Surrealem immer wieder hart dokumentarische Strecken, umgekehrt klingt manche biografische Behauptung wie wilde Verschwörungsfantasterei.

Harlan ist von der Suche nach Wahrheit besessen, mit dem schönen Schein einleuchtender Erklärungen mag er sich nicht zufriedengeben. Dass er seine aufklärerische Energie dabei rücksichtslos auch gegen sich selbst richtet, unterscheidet ihn von vielen anderen.

Der Film „Thomas Harlan – Wandersplitter“ läuft im Acud, im Arsenal und im Eiszeit. Jean-Pierre Stephans Biografie „Thomas Harlan – Das Gesicht deines Feindes“ (240 S., 22,95 €) und Harlans Erzählungen „Die Stadt Ys“ (280 S., 19,95 €) erscheinen bei Eichborn.

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