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Filmkritik: Carlos - Der Schakal

Terrorismus und Außenpolitik: Olivier Assayas’ 330-Minuten-Film "Carlos – Der Schakal" ist eine klug rhythmisierte, niemals überhitzte Tour de Force und verliert bei aller Detailliebe den Bogen nicht aus den Augen.

Paris, 1975. Eine Wohngemeinschaft in der Rue Toullier, ein ganz normaler Abend. Man trinkt, raucht, plaudert, spielt Gitarre, bis der Geheimdienst an die Tür klopft. Ilich Ramírez Sánchez bleibt zunächst freundlich. Nein, er ist nicht der Mann auf dem Foto, nicht der, den sie suchen. Aber als die Agenten einen arabischen Kollegen hinzuholen, der ihn zweifelsfrei erkennt, schießt Carlos alle nieder. Dem Araber schaut er direkt in die Augen. Eine Exekution.

Ilich Ramírez Sánchez alias Carlos, der Schakal. Ein Phantom, ein Mythos, ein Killer und Top-Terrorist, ein global player des Kalten Kriegs. Der 1949 geborene Venezolaner arbeitete für die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, baute dann seine eigene Organisation auf, die für Syrien, Irak und die Geheimdienste Osteuropas arbeitete. 1975 verantwortete Carlos den Überfall auf das Opec-Hauptquartier in Wien. Neben Anschlägen und Attentaten in Frankreich und London geht mutmaßlich auch der Sprengstoffanschlag 1983 auf das Berliner Maison de France auf sein Konto, es gab einen Toten und 23 Verletzte. Der Fall der Mauer machte Carlos arbeitslos; 1994 lieferte der Sudan ihn an Frankreich aus, wo er heute im Gefängnis sitzt.

Wer Carlos in der Razzia-Szene schießen sieht, der begreift: Dieser Mann hat keinerlei Tötungshemmung. Es ist eine brutale Szene, ein Ausbruch von Gewalt, den Regisseur Olivier Assayas nicht choreografiert oder sonstwie beschönigt. Hier ist kein Revoluzzer am Werk, der für eine Idee mordet, sondern ein militanter Stratege, einer, der es für Geld tut.

Der Terrorist als Popstar? Anders als für die RAF stellte sich für Carlos die Gewaltfrage nie moralisch, wegen seiner Herkunft aus den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen. „Dort herrschte ein brutaler Bürgerkrieg,“ erklärt der 55-jährige Assayas auf Interviewtour in Berlin. „Argentinien, Brasilien, Uruguay, Chile: Überall ermordete der Staat die Rebellen, und die Rebellen wehrten sich. Carlos studierte in Moskau, er zog mit 19 nach Jordanien und kämpfte in den Bergen. Er war vom Tod umgeben, hatte keine Angst, selbst zu töten. Mit 21 ist er bereits ein erfahrener Krieger.“

Wie dreht man einen Film über einen amoralischen Latino-Macho, über einen, der mit Sonnenbrille und Baskenmütze zwar den Sexappeal eines Che Guevara ausstrahlt, in seinem kalten Narzissmus, seinem Kalkül, seiner Hybris aber kaum je sympathisch wirkt? Einen Fünfeinhalbstunden-Film über einen, von dem es kaum Fotos gibt? Wie widmet man ihm eineinhalb Regisseurslebensjahre, mit 100 Drehtagen, 120 Darstellern und Schauplätzen in zehn Ländern, von Algier über Damaskus, Tripolis und Bagdad bis nach Budapest und Khartoum?

Er habe sich, nach anfänglicher Begeisterung für den vom französischen Sender Canal Plus angebotenen Stoff, dagegen gewehrt, gesteht Assayas. Zwar hatte er gleich die klare Vorstellung von vier Akten, von den Anfängen in Paris über den Opec-Überfall und Carlos’ Zeit als syrischer Agent bis zur Auslieferung aus dem Sudan. Aber er bekam Angst vor der eigenen Courage, schließlich hatte sich der frühere Filmpublizist und Kultregisseur des französischen Autorenkinos („L’eau froide“, „Irma Vep“) bislang nicht gerade als Politikexperte hervorgetan.

Also legte Assayas die Latte hoch, in der Hoffnung, das Projekt würde gestoppt. Er wollte keine Spielfilmlänge, sondern 330 Minuten, auf 35 Millimeter in Cinemascope. Er bestand auf Originalsprachen, auf Drehs in Libanon, Jemen und Sudan und auf eine Besetzung ohne internationale Stars. „Keine Kompromisse, sagte ich mir. Nur dann macht der Wahnsinn Sinn.“ Erstaunlicherweise erfüllte der Sender alle Auflagen; nur Jemen und Sudan erwiesen sich als Unmöglichkeit. Weil die deutsche Produktionsfirma Egoli Tossell mit einstieg, wurde fast ein Drittel des 13-Millionen-Euro-Films hierzulande gedreht, in Naumburg, Halle und Berlin. Allein der Flughafen Tempelhof stellt ein halbes Dutzend Flughäfen dar.

Assayas’ Kompromisslosigkeit ist ein Glück für den Film, der nun in der kein bisschen langatmigen Langfassung und in einer etwas verstolperten Dreistunden-Version ins Kino kommt. Denn „Carlos – Der Schakal“ ist mehr als eine Chronik der Ereignisse, mehr als ein psychologisches Kammerspiel mit Edgar Ramírez in der Hauptrolle, der wie Carlos aus Caracas stammt und die paradoxe Aura des Unberechenbaren und klandestinen Selbstdarstellers mit großer Körperlichkeit auf die Leinwand bringt. Außerdem dabei: Nora von Waldstätten als Carlos’ Ehefrau Magdalena Kopp, Alexander Scheer als Johannes Weinrich, Julia Hummer als fanatisch-militante Gabriele Kröcher-Tiedemann, Christoph Bach als Aussteiger Hans-Joachim Klein, Katharina Schüttler, Jule Böwe, Udo Samel.

Assayas’ klug rhythmisierte, niemals überhitzte Tour de Force verliert bei aller Detailliebe den Bogen nicht aus den Augen, der sich über zwei Jahrzehnte spannt. Und anders als „Der Baader-Meinhof-Komplex“ hat der Film ein Erkenntnisinteresse, will Zeitgeschichte nicht illustrieren oder ins Actiongenre zwingen, sondern er will sie verstehen. Assayas hat eine starke, streitbare Arbeitsthese: „Es gibt keinen individuellen Terrorismus, nur Staatsterrorismus. Terroristen sind ein Werkzeug der Politik, von Regimen und Geheimdiensten, sind Auftragskiller, angeheuert von einem Staat, der gegen einen anderen vorgeht.“ Sein Film erkundet die politischen Mechanismen hinter der Militanz, arrangiert Versuchsanordnungen.

Zum Beispiel der Opec-Überfall, die Geiselnahme der Ölminister, die Episode dauert über eine Stunde. Die Logistik, die lächerlichen Sicherheitsvorkehrungen, wieder ein rüder Gewaltausbruch, dann die Odyssee nach Algier, Damaskus und wieder zurück. Vor allem aber: politische Deals. Carlos soll den saudischen Minister töten, verspielt aber die Sympathien seiner Auftraggeber, und weil er in Algier auch noch auf eigene Faust ein Lösegeld von 20 oder gar 50 Millionen Dollar aushandelt, trennt sich die PFLP von ihm. Der Söldner hat den Boss gespielt.

Andere Versuchsanordnung: KGB-Chef Andropow versammelt in Bagdad diverse Terroristen und bietet ein Kopfgeld für die Ermordung von Ägyptens Staatschef Sadat. Oder Carlos’ Netzwerk des Terrors, dessen Fäden in Ost-Berlin zusammenlaufen: Die deutschen Militanten sind fasziniert von ihm, denn sie müssen das Töten erst lernen.

So könnte es gewesen sein. „Carlos ist eine supranationale Figur mit einer zerstörerischen, aber starken Persönlichkeit“, erklärt Assayas. „Über ihn kann man die Geopolitik seiner Zeit erzählen, kann schildern, wie die westeuropäische Linke mit dem Kalten Krieg und den Konflikten im Nahen Osten zusammenhing.“ Japans Rote Armee, die RAF, die Revolutionären Zellen, die baskische ETA, die Roten Brigaden, der KGB, die Stasi, die rumänische Securitate, sie waren vernetzt. Auch deshalb ist „Carlos – Der Schakal“ fünfeinhalb Stunden lang: Wegen der komplexen Verstrickung von Außenpolitik, Diplomatie und Terrorismus. Und wegen des Unterschieds zum islamistischen Terror von heute, der zwar global handelt, aber weniger global denkt, in politischer, ethnischer wie religiöser Hinsicht.

Mit dem Ende des Kalten Krieges wird auch Carlos kaltgestellt. Irgendwann ist da nur noch ein dekadenter Lebemann mit einer zerrütteten Ehe. Auch dafür nimmt der Film sich Zeit, für den Niedergang, die Zermürbung, das Abdriften in die Bedeutungslosigkeit. Aus dem Gefängnis heraus versuchte Carlos, sich mit juristischen Mitteln Zugang zum Drehbuch zu verschaffen, vergeblich. „Nach 15 Jahren Gefängnis ist er ein anderer Mensch als der Carlos im Film.“ Auch deshalb hat Assayas gar nicht erst versucht, seinen Titelhelden zu treffen. Verurteilt wurde Carlos 1997 lediglich für die Morde in der Rue Toullier. Für keine andere Tat wurde er bisher belangt.

Ab Donnerstag in den Kinos. 330-Minuten-Fassung (OmU): Rollberg (auch in 2 Teilen), Sonntags-Matinee im International. 180-Minuten-Fassung: in 7 BerlinerKinos, OmU: Hackesche Höfe, Odeon

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