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Fotografenandrang auf den Filmfestspielen in Cannes.

© AFP

1. Festivaltag in Cannes: Gedankenloser Voyeurismus, als Filmkunst getarnt

In den Filmen am ersten Festivaltag geht es weniger um zeitlose Wahrheiten als um die bedrängte, ratlose Jugend von heute. Es wird geschlafen, getötet, gestorben.

Solche Treppen gibt es auf der Welt nicht viele. 24 Stufen, roter Teppich, oben die Festivalchefs, der alerte Thierry Fremaux und der greise Gilles Jacob, selber schon eine lebende Legende,  und sie alle schreiten zu ihnen hoch, bei der Eröffnungs-Gala in diesem Jahr: die Juroren Uma Thurman, Jude Law und Robert de Niro, Melanie Griffith mit Ehemann Antonio Banderas, Woody Allen mit seinem Schauspieler-Team (nein, Nebendarstellerin Carla Bruni ist nicht dabei), junge Schönheiten im Tschador, ein hoher kirchlicher Würdenträger in bodenlangem weißen Mönchsgewand, der amerikanische Botschafter, Models mit atemberaubenden Haarkreationen genauso wie der traditionell ungekämmte Emir Kusturica. Das Festivalpalais am Hafen von Cannes ist ein hässliches Bauwerk, aber allein wegen dieser Stufen darf das Filmfest niemals in einen neuen Palast umziehen. Wenn das Schaulaufen vor der Fotografenmeute am Fuß der Treppe sich dann doch in die Länge zieht, läuft Thierry Fremaux  kurzerhand die Treppe hinunter, den Stars und Honoratioren entgegen.

Gerade hält die 72-jährige Claudia Cardenale, Diva aus den glamourösen Zeiten des italienischen Kinos, den Betrieb auf. Vor lauter Autogramme-Geben und Küsschen hier, Küsschen da gelangt sie nicht einmal in die Nähe der Stufen. Sie weiß genau, der kleine Junge, der ihr gerade eine Unterschrift abluchst, hat keine Ahnung, wer sie ist -  aber das ist egal, ihr Glück überstrahlt alle Furien des Verschwindens. Das ist schön in Cannes: Ein paar hundert Meter weiter bricht auf der Croisette gerade eine mittelgroße Hysterie aus, weil Lady Gaga das Hotel Martinez verlässt, der Strandboulevard ist mit marktschreierischer Werbung für künftige Blockbuster gesäumt („Cobra, the Space Pirate“, „Land of the Bears“, Spielbergs „Tim und Struppi“-Verfilmung) und gleichzeitig gilt’s der Filmkunst. Nostalgie und Talmi, Kinoklassiker und 3-D-Hype gehen Hand in Hand. Die Filmgeschichte, die Vergangenheit, hier ist sie quicklebendig. Und während man einen Blick auf die fröhliche, jung gebliebene 80-jährige Agnès Varda zu erhaschen versucht, die Mutter der Nouvelle Vague, muss man aufpassen, dass einem nicht der Bugatti über die Füße fährt, der sich gerade im Schritttempo durch die Mengen der Schaulustigen schiebt.

Die Schönheit ist ein raffinierter Gleichmacher. War die Chinesin da gerade Gong Li? Und sieht Rachel McAdams, die Hauptdarstellerin von Woody Allens Eröffnungsfilm „Midnight in Paris“,  nicht ein bisschen aus wie Scarlett Johansson? Da, der alte Herr mit seiner blutjungen, mit glitzerndem Schmuck behängten Gefährtin: Er packt sie fest am Schlüsselbein, während die beiden über die Straße zur Gala eilen, eine Besitz ergreifende, Eigentum markierende Geste. Wenig später sieht man die Szene wieder, in der Pressevorführung des ersten Wettbewerbsfilms, Julia Leighs „Sleeping Beauty“. Darin verdient die junge, durch ihr Leben streunende Heldin Lucy (Emily Browning) ihr Geld damit, dass sie sich erst mit einem Drogentrunk betäuben und dann von alten Kerlen im Tiefschlaf begrabschen lässt.

Ob zur Galavorstellung am Abend oder morgens um halb neun zur ersten Pressevorführung: Wer ins Kino will, muss unter dem riesig vergrößerten schwarzweißen Festivalplakat mit Faye Dunaways langen, angewinkelten Beinen hindurch. Das Plakatmotiv ziert die Stirnseite des Palais’ direkt über der Treppe; Jerry Schatzberg hat die Schauspielerin 1970 so fotografiert - laszive Pose, geschlossene Augen, halb geöffneter Mund.  41Jahre später ist sie auch wieder da, kommt unter ihrem eigenen Bild  die Treppe hoch. Dass die Schönheit nicht durch Vollkommenheit, sondern erst durch einen kleinen Makel zur wahren Schönheit wird, auch daran erinnert das Plakat. Faye Dunaways Strümpfe werfen in der Kniebeuge feine Falten, die nackten Beine sind gar nicht nackt. Das Kino, die Kunst der Camouflage.

In den Filmen am ersten Festivaltag geht es weniger um zeitlose Wahrheiten als um die bedrängte, ratlose Jugend von heute. Es wird geschlafen, getötet, gestorben in diesen Filmen. In „Sleeping Beauty“ aus Australien stellt die Studentin Lucy wie gesagt ihre schlanken Glieder, den jungen Körper, die zarte Alabasterhaut zahlenden Männern zur Verfügung – und leider auch uns, dem Kinopublikum. Die Kamera nimmt keine andere Perspektive ein als Lucys Kunden, sie filmt das wehrlose Mädchen schlafend im Bett, auch wenn es allein ist, bei sich zu Hause.

Gedankenloser Voyeurismus, als Filmkunst getarnt. Der zweite Wettbewerbsfilm, Lynne Ramsays amerikanisches Mutter-Sohn-Drama „We need to talk about Kevin“ – mit einer Darstellerpreis-verdächtigen Tilda Swinton – rekapituliert die familiäre Vorgeschichte eines jugendlichen Amokläufers. Und auch Gus von Sants „Restless“, Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Un Certain Regard“, variiert das Todesmotiv. Ein Junge treibt sich auf den Beerdigungen anderer Leute herum, weil er mit dem Unfalltod seiner Eltern nicht klar kommt. Dabei trifft er auf ein krebskrankes Mädchen, das noch drei Monate zu leben hat. Die zunächst charmant-verspielte Lovestory erschöpft sich bald in Belanglosigkeiten. Und zum Leichenschmaus gibt’s Marshmellows. Jugend ohne Zukunft: Kaum dass ihr Leben so richtig beginnt, sind die Protagonisten all dieser Filme vom Tod umfangen. Skelette klappern, Geister spuken; kein Zufall, dass in gleich zwei Filmen Halloween gefeiert wird.

Die französische Schauspielerin und Regisseurin Maiwenn Le Besco versucht es in dokumentarischer Manier. Im Wettbewerbsfilm „Polisse“ schildert sie den Alltag in der Pariser Polizeibehörde, Abteilung Kindesmissbrauch. Vor der Kamera befragen die Beamten vergewaltigte, vernachlässigte, misshandelte Kinder und Jugendliche, befragen auch die potentiellen Täter. Was genau ist geschehen? Die Atmosphäre ist oft aggressiv, auch unter den Polizisten, sexuell aggressiv, unentwegt lauert Gewalt.

Jury-Präsident Robert de Niro war 1967 zum ersten Mal in Cannes,  mit „Taxi Driver“, Martin Scorseses Klassiker über die Gewalt auf der Straße und die Frage, wo sie eigentlich herkommt. Auf der tumultösen Jury-Pressekonferenz wird de Niro von Journalisten bedrängt und mit seinen Dialogsätzen von damals behelligt: „Are you talking to me? Did you fuck my wife?“. Die Tageszeitung „Liberation“ will in den Augen des amerikanischen Stars das gute alte Kameratier ausgemacht haben. Aber auf den Fotos dazu schaut er derart schicksalsergeben, dass man begreift: Es gehört viel Gelassenheit dazu, um all den Ruhm und den Hype, in dem ja auch ein Stück Gewalt steckt, halbwegs zu überstehen.

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