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Kabarettist: Tränen lachen, Heiterkeit heulen

Letzte Worte: zum 20. Todestag feiert ein Dokumentarfilm den Kabarettisten Wolfgang Neuss

Der Hipness-Faktor kann in der Charlottenburger Lohmeyerstraße nie sonderlich hoch gewesen sein. Unauffällige Nachkriegsbauten reihen sich aneinander, verstaubte Schaufenster zeugen davon, dass die kubanische Cocktailbar „Punto Mulata“ schon vor längerem dicht gemacht haben muss. Hausnummer 6 ist ein Fünfziger-Jahre-Wohnhaus mit schräg gestellten Balkonen. Wo ein Schild Falschparker mit dem Abschleppdienst droht, müsste eigentlich eine Gedenktafel hängen. Denn fast zwanzig Jahre lang, vom Anfang der Siebziger bis zu seinem Tod 1989, lag hier das Aussteigerdomizil von Wolfgang Neuss. Hier begab sich der Kabarettist, einst einer der bestbezahlten deutschen Unterhaltungsstars, in eine seltsame innere Emigration. Er ließ sich seine steingrauen Haare lang wachsen, fand die Erleuchtung in buddhistischen Meditationsübungen und lebte fortan von 265 Mark Sozialhilfe im Monat. „Dreißig Jahre habe ich gebraucht, um berühmt zu werden“, verkündete er. „Jetzt arbeite ich am Gegenteil.“ Gelungen ist ihm das nicht. Der Ruhm verfolgte Neuss selbst über den Tod hinaus.

„Mensch, war ich lange nicht hier“, staunt Rüdiger Daniel. „Das war wie ein Ashram da oben“, sagt er und zeigt hoch zum zweiten Stock, wo heute Gardinen Falten werfen. Dort hat der Fernsehmann am 2. Mai 1989 das letzte Interview mit Neuss geführt. Drei Tage später, am 5. Mai, war der Kabarettist tot. Aus dem Interviewmaterial von damals, Film- und Fernsehauftritten von Neuss und Gesprächen mit Familienangehörigen, Freunden, Wegbegleitern hat Daniel den Dokumentarfilm „Das Neuss Testament“ collagiert, der nun zum 20. Todestag des Radikalkomikers ins Kino gekommen ist. Ein Testament mit froher Botschaft. „Wir leben immer, wir haben gar keine Chance, nicht zu leben“, sagt Neuss da. „Ich gebe euch die Botschaft: Man lebt nur ab, um zu leben.“

„Neuss Testament“, so hieß das Soloprogramm, mit dem Wolfgang Neuss 1965 den Vaganten und Bänkelsänger François Villon für sich entdeckte: „Ich lache Tränen, heule Heiterkeit / Ich schöpfe Trost aus mancher Leute Traurigkeit / Icke – höchst beliebt, verschrien bei jedermann.“ Er spottet über alles und jeden, Adenauer, NS-Mitläufer und die SPD, über „dicke Gammler in Kamelhaarkutten“ und „Topmanager mit Luxusnutten“. Fotos zeigen ihn hemdsärmelig, mit intellektueller Goldrandbrille und rundem Wirtschaftswundergesicht. Danach wird sein Witz noch galliger, Neuss sympathisiert mit der Studentenbewegung, demonstriert gegen den Vietnamkrieg, polemisiert gegen Springer, wird aus der SPD ausgeschlossen, verabschiedet sich für eine Zeit ins „Exil“ nach Chile.

Irgendwann Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre muss Neuss in der Charlottenburger Lohmeyerstraße eingezogen sein, bei seiner Lebensgefährtin Gisela Groenewold, einer Fotografin, die er während seiner Auftritte mit „Neuss Testament“ kennengelernt hatte. Groenewold gehört zur Politschickeria, in ihrer Dachgeschosswohnung gehen Prominente wie Rudi Dutschke, Hans Magnus Enzensberger und die künftige Terroristin Ulrike Meinhof ein und aus. Neuss schließt sich lieber der Tunix-Bewegung an. „Such dich“ reimt sich für ihn bald auf „süchtig“, er experimentiert mit LSD und wird zum Hasch-Rebellen. Als die Beziehung mit Gisela Groenewold endet, zieht der Aussteiger in die Dreizimmerwohnung im zweiten Stock. Miete muss er nicht bezahlen, das Haus gehört Giselas Bruder Kurt Groenewold, einem Hamburger Rechtsanwalt.

„Es roch natürlich nach Gras, ist doch klar“, erinnert sich Rüdiger Daniel. Zwei Mal unterbrach Neuss während des vierstündigen Interviews die Dreharbeiten. „Dann zog er sich zurück, um mit einem Joint seine Schmerzen zu stillen.“ Vom Unterleibskrebs, an dem er litt, wusste kaum jemand etwas. Neuss war 65, der Tod hatte ihn bereits im Griff, doch vor der Kamera – das zeigen die Aufnahmen – läuft er noch einmal zu großer Form auf. „Kunst statt Krieg heißt die Botschaft meiner Hand“, sagt er und hält vier Finger in die Kamera. Seinen linken Zeigefinger hatte er sich im Krieg abgeschossen, um nicht zurück an die Ostfront zu müssen.

Neuss scherzt und schwadroniert, zeitweilig reißt er die Regie an sich. „Kannst du jetzt mal mit der Kamera auf Johanna gehen, ich will mal was von ihr erzählen“, lautet eine seiner Anweisungen. Rüdiger Daniel – heute 61 – war 1989 aus Köln nach Berlin gekommen, weil er an einer WDR-Serie über Varietés arbeitete. So hatte er einige alte Kleinkunst- Kollegen in die Lohmeyerstraße gebeten: Neuss’ ersten Kabarettpartner Abi von Haase, die Schauspielerin Johanne König, berühmt geworden als „Klementine“ in der Ariel-Werbung, und ihren Mann Felix Hock, der einst das „reisende Reichs-Kabarett der Komiker“ gemanagt hatte.

Mit dieser Truppe tingelte Neuss kurz nach dem Krieg durch Deutschland, die Gags, die er damals machte, waren noch ziemlich unpolitisch. „Ick komme hier am Bahnhof an, geh auffe Trabrennbahn, mach mir ’n Schuh zu – wat soll ick Ihn’ sagen: Kommt eener und sattelt mir. Na und? Zweeter jeworden.“

„Neuss hat mit dem Kopf gefühlt und mit dem Bauch gedacht“, sagt Daniel. „Das war ein Bursche, der zu leben wusste.“ 1950 kauft er für 15 Mark eine große Trommel, weil für ein Kabarett- Solo ein Instrument als Requisit gebraucht wird. Danach macht er als „Mann mit der Pauke“ auf der Bühne Karriere, singt, tanzt, springt mit seinem Kompagnon Wolfgang Müller im Musical „Kiss me, Kate“, macht Werbung und Hörspiele, dreht Filme wie „Wer fuhr den grauen Ford?“ oder „Das Wirtshaus im Spessart“, inszeniert selber die Satiren „Wir Kellerkinder“ und „Genosse Münchhausen“. Der gelernte Schlachter fährt im offenen Sportwagen über den Ku’damm und zündet sich schon mal mit einem Geldschein die Zigarre an. Ein Leben auf der Überholspur.

Auch als er seine Karriere beendet, bleibt Neuss extrem. Nur dass er seine Existenz jetzt von außen nach innen umstülpt. Aus dem Sunnyboy wird der Stadtindianer, der im Schneidersitz über Daseinsfragen brütet. Legendär ist ein Talkshowauftritt, bei dem er 1983 Richard von Weizsäcker mit „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“ begrüßt. Im Film rühmt der ehemalige Bundespräsident seinen „souveränen Verstand“. Wolfgang Neuss, keine Frage, ist nicht tot. Seine Schwester Eva sagt jeden Tag „Guten Morgen“ zu einem Foto von ihm. Manchmal grüßt Wolfgang zurück.

„Das Neuss Testament“ läuft im Central Hackescher Markt (17.30 Uhr), Eiszeit (19 Uhr) und Lichtblick-Kino (19 Uhr)

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