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Filmstart: Schöne fantastische Welt

Call-Center, total gaga: eine Komödie aus Italien.

Der Saal tobt. Fünfzig junge Frauen singen aus voller Kehle den Firmen-Song, tanzen und werfen begeistert die Arme in die Luft. Von einer neuen, fantastischen Welt ist in dem Lied die Rede, von Angst und Zweifel, die es hinter sich zu lassen gilt, von Hilfsbereitschaft und Lebenskraft. Sekunden später sitzen sie bienenfleißig in ihren Plexiglaskabinen und preisen der Kundschaft am Telefon die Vorteile eines überteuerten Multifunktionsgerätes an, das schneiden, raspeln, mischen, entsaften und sogar Trinkwasser sterilisieren kann.

Marta (Isabella Ragonese) hat gerade erst im Call-Center von „Multiple Italia“ angefangen, aber im Kundengespräch erweist sich die promovierte Philosophin als Naturtalent. Monatelang hat sie sich erfolglos um Jobs beworben. Dann drückt ihr in der U-Bahn ein Mädchen einen Zettel in die Hand. Die Mutter sucht eine Babysitterin – und bietet Marta ein Zimmer in ihrer chaotischen Wohnung und einen weiteren Halbtagsjob für die Frühschicht im Call-Center an.

Die Telefonakquise gerät dabei zunehmend surreal. Der Kontrast zwischen der menschlichen Wärme, die Marta am Telefon herzustellen vermag, und den Vermarktungsmethoden des internationalen Großunternehmens nimmt immer bizarrere Formen an. Auf den wöchentlichen Motivationsmeetings werden die Quotenköniginnen gefeiert und die Versager an den Pranger gestellt. Die „Corporate Identity“ führt zu massiven Persönlichkeitsstörungen. So entpuppt die mächtige Teamleiterin sich als neurotische Furie und der Chef als wehrloses Scheidungsopfer.

Eine wilde Mixtur aus Kapitalismuskritik, burlesker Verwicklungskomödie, schrillen Musical- und TelenovelaElementen und unaufdringlicher Lebensweisheit rührt der italienische Regisseur Paolo Virzì in „Das ganze Leben liegt vor dir“ an. Zusammengehalten wird das filmische Multi-Tasking von der sonnigen Leinwandpräsenz der fabelhaften Isabella Ragonese, die wie Alice im Wunderland durch die schöne neue Konzernwelt treibt, distanziert das absurde Psychodrama beobachtet und schließlich Trost in der Umarmung einer alten Dame findet. Ken Loach hätte aus dem Stoff wohl einen Film über die sozialen Härten im Billiglohnsektor gemacht. Virzì macht daraus, ohne agitatorische Bemühungen, die ebenso quirlige wie tiefsinnige Persiflage auf das Sektenwesen namens Großkonzern.

Central am Hackeschen Markt (OmU)

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