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Pessimist und Antikapitalist. Der Finne Aki Kaurismäki stellte seinen Film "Le Havre" vor.

© Reuters

Bericht aus Cannes: Sieben Fragen zur Halbzeit

Der Dienstag ist Märchentag in Cannes. Die Geschäfte laufen wieder, die Journalisten dehydrieren und alle rätseln über DSK.

1. Auch in Cannes reden alle nur über das eine. Am Montag fasste die Tageszeitung „Libération“ den verworrenen Skandal um Dominique Strauss-Kahn auf zehn Sonderseiten und einer Schlagzeile mit nur sechs Lettern zusammen, „DSK OUT“. Am Dienstag waren es zwölf Extraseiten und nur noch drei Buchstaben. „OUT“ stand auf der Titelseite, dazu das Porträtfoto des in New York wegen versuchter Vergewaltigung festgenommenen IWF-Chefs, wie er dem Haftrichter vorgeführt wurde, Bartstoppeln, offenes Hemd, nach innen gerichteter Blick – auf der nächsten Seite dann ausführliche Deutungen des Bildes, das DSK bei der Vorführung abgab. Als die Szene in den Nachrichten gezeigt wird, bilden sich im Festivalbunker mit Filmmarkt und Pressezentrum Menschentrauben vor den Fernsehern, die sonst die Pressekonferenzen aus dem Saal im dritten Stock übertragen. Enthüllungen, Korrekturen, Spekulationen, die Fantasie schießt ins Kraut. Das passt zu einem Filmfestival. Auch hier werden ständig Menschen vorgeführt, erhält die Vorstellungskraft unentwegt Nahrung. Also wird auch an der Croisette die Intrigen-These diskutiert. Und nach Bertrand Bonellos französischem Wettbewerbsbeitrag „L’Apollonide“ über ein Pariser Edelbordell zur Zeit des Fin de Siècle kursierte vor allem die Frage: Ist es schlicht der Sexualtrieb? Oder ist da einer blind vor lauter Ego und glaubt, ihm kann nichts passieren, weil er ein so mächtiger Mann ist? Immer vorausgesetzt, der Vorwurf stimmt. Am Mittwoch steht Xavier Durringers Spielfilm „La Conquete“ auf dem Programm, es geht um den Aufstieg von Nicolas Sarkozy – außer Konkurrenz.

2. Große Fragen, kleine Fragen. Am gestrigen Montag war Transzendenz-Tag in Cannes. Das Kino wurde zum Gotteshaus, mit Terrence Malicks kosmischer Bildersymphonie „Tree of Life“ und Bruno Dumonts Nebenreihen-Beitrag „Hors Satan“ unmittelbar im Anschluss. So viel Jenseits schon kurz nach acht in der Früh, mon Dieu! Gottes Werk und Teufels Rachefeldzug, Himmelfahrt und Höllenritt, Naturmystik und Sphärenmusik, die heilige Familie, der Antichrist samt Wiederauferstehung von den Toten – das alles vor der Mittagspause. Hinterher stellt man einander im strahlenden Sonnenschein die Gretchenfrage und reibt sich die Augen. Mag ja sein, dass die Erschaffung der Welt vom Urknall bis heute nach ihrer ultimativen Bebilderung schreit, aber welcher der drei Brad-Pitt-Söhne in „Tree of Life“ ist denn nun bitte derjenige, der im Koreakrieg fällt? Die Wahrheit ist konkret, also lieber Zahlen: Die drei Pitt-Söhne wurden unter 10000 Jungen gecastet, ein ganzes Jahr ging allein für die Special-Effect-Recherchen drauf, zwei Jahre dauerte die Montage, an der fünf Cutter beteiligt waren. Trotz des Riesenaufwands soll Malicks Bombasto-Poem nur 32 Millionen Dollar gekostet haben („Pirates of the Caribbean 4“: 200 Millionen). Aber die Branchenblätter zweifeln schon jetzt daran, dass „Tree of Life“ sein Budget wieder einspielen wird.

3. Wie schafft Aki Kaurismäki es eigentlich, seinen horrenden Pessimismus in so herzensgütige Filme zu verwandeln? Am heutigen Dienstag ist Märchentag in Cannes. Und Nostalgietag. In Kaurismäkis „Le Havre“ – „Ich habe die Stadt als Schauplatz gewählt, weil sie so einsam ist wie ich“ – rettet der Schuhputzer-Bohemien mit dem schönen Namen Marcel Marx (André Wilms) einen afrikanischen Flüchtlingsjungen vor den Behörden, und seine schwerkranke Frau (Kati Outinen) ist am Ende wie durch wie ein Wunder geheilt. Ein Märchen, ja, in bunter Kaurismäki-Tristesse, mit höflichen Helden, lakonischen, altmodisch aufgesagten Dialogen, dem Hund Laika, in die Jahre gekommenen Autos und einem Rockkonzert mit Little Bob, dem Elvis Presley von Le Havre, wie der Regisseur ihn nennt. Ein Stück Finnland in der Normandie, ein Stück irdisches Glück nach all dem himmlischen Streben. Und ein Plädoyer für mehr Brüderlichkeit. Wobei es um Freiheit und Gleichheit heutzutage auch nicht gut bestellt ist, in ganz Europa nicht, betont Kaurismäki in Cannes. Er verrät auch gerne noch mal, dass er sich beim Drehen aus antikapitalistischen Gründen auf einen Take pro Szene beschränkt, maximal leistet er sich zwei.

4. Apropos Kapitalismus. Der Markt brummt wieder, meldet der „Hollywood Reporter“, die Filmbusinessleute sind enthusiastisch. Letztes Jahr litt auch Cannes unter der Finanzkrise. Wieso läuft das Geschäft mit den laufenden Bildern jetzt wieder rund, während Griechenland und Portugal nach wie vor pleite sind? Und wieso hat die Isle of Man jedes Jahr eine der ganz vorne am Kai vertäuten Luxusyachten gemietet? So eine Yacht kostet samt Liegeplatz für die Zeit des Filmfestivals eine sechsstellige Summe. Ein auf der Steuerparadies-Insel produzierter Film wurde hier aber noch nie gesichtet. Ein paar Meter weiter liegt die Kodak-Yacht: Werden im digitalen Zeitalter noch Geschäfte mit Zelluloid gemacht?

5. Dürfen die 4000 akkreditierten Journalisten in Cannes in diesem Jahr nicht mal mehr eine klitzekleine Wasserflasche mit ins Kino nehmen, weil dehydrierte Kritiker milder gestimmt sind als Kollegen im vollen Saft?

6. Der Filmemacher Emir Kusturica hat sich zuletzt vor allem durch sein nationalistisches Engagement für Großserbien hervorgetan, auch seine Unterstützung des in Den Haag einsitzenden mutmaßlichen Srebrenica-Verantwortlichen Radovan Karadzic ist bekannt. Eigentlich ist Cannes ein politisch sensibles Festival, siehe das Engagement für die iranischen Filmkünstler. Warum hat Festivalleiter Thierry Fremaux ausgerechnet Kusturica zum Jury-Präsidenten der renommierten Nebenreihe „Un Certain Regard“ gekürt?

7. „Gefühle auf Knopfdruck, Verletzlichkeit um 11 Uhr, Freude um 12 und die Angst dann um 2, nach der Mittagspause, das ist mein Beruf,“ sagt Charlotte Rampling in Angelina Maccarones wunderbarem Filmporträt „The Look“. Die Berliner Regisseurin hat die britische Schauspielerin bei Begegnungen mit Freunden und Künstlern begleitet. Rampling spricht mit dem Fotografen Peter Lindbergh über den Kamerablick, mit Paul Auster über das Alter, mit Juergen Teller über Tabus. Man sieht sie in ihren Filmen, bei Woody Allen oder François Ozon, sieht, wie sie den Spieß umdreht und den Blick erwidert, der auf sie gerichtet ist. Wie es ist für dich beim Fotografieren hinter der Kamera? Wie ist das Älterwerden bei der Schriftstellerei? Rampling ist berühmt für ihren geheimnisvollen Blick. Ach, das sind nur meine Schlupflider, meint sie. Eine kluge, schöne, gewitzte, temperamentvolle Frau, man ahnt die Melancholie hinter ihrem Lachen. Und den Preis, den die innere Freiheit kosten muss, die Unabhängigkeit, die sie sich im knallharten internationalen Filmgeschäft bewahrt hat, als inzwischen 65-jähriger Star.

Am Montagabend, beim Empfang der deutschen Branche am Strand des Hotels Majestic, ist Charlotte Rampling der einzige Stargast. Andreas Dresen und andere Regisseure der zehn deutschen Produktionen und Koproduktionen in Cannes 2011 sind ebenfalls da, aber Rampling überstrahlt sie alle – und wird kaum beachtet. Letzte Frage: Warum holt niemand sie auf die Bühne, warum ist Kulturstaatsminister Bernd Neumann nicht in der Lage, ihr bei seiner Ansprache seine Reverenz zu erweisen? Der Glamour von Cannes, er ist plötzlich weit weg.

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