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"The Tree": Träumen in Bäumen

Alter Baum oder neues Leben heißt die eigenartige Frage in Julie Bertuccellis zweitem Werk. „The Tree“ ist verführerisch.

Julie Bertuccelli mag Brechts Gedicht „Vom Klettern in Bäumen“ nicht kennen, doch es passt gut zu ihrer zweiten Regiearbeit: „Es ist ganz schön, sich wiegen auf dem Baum! / Doch sollt ihr euch nicht wiegen mit den Knien / Ihr sollt dem Baum so wie sein Wipfel sein: / Seit hundert Jahren abends: er wiegt ihn“, heißt es dort.

Die kleine Simone klettert (Morgana Davies) in dieser Adaption eines Bestsellers von Judy Pascoe gern auf den Baum vor ihrem einsamen Haus, aber er ist viel zu groß und stark, als dass die Achtjährige ihn schaukeln könnte. Vielmehr wiegt er das Mädchen in der Illusion, aus seinem mächtigen Stamm spreche noch immer die Stimme des Vaters, dessen plötzlicher Tod die Mutter und Simones drei Geschwister um den Mittelpunkt der Familie brachte. Für Dawn, die von Charlotte Gainsbourg mit warmer Intensität verkörperte Mutter, fände sich in George (Marton Csokas), dem trittsicheren Mann aus dem nahen Städtchen, wohl ein neuer Partner, aber nicht für das Kind. Doch wie viel Verlass ist schon auf einen jahrhundertealten Feigenbaum, der unter den Peitschenhieben des Zyklons das Holzhaus zertrümmert, dass den Bewohnern die splitternden Wände um die Ohren fliegen?

Alter Baum oder neues Leben heißt die eigenartige Frage in Julie Bertuccellis zweitem Werk nach „Seit Otar fort ist“. Schon immer wollte sie Italo Calvinos fantasiereichen Roman „Der Baron auf den Bäumen“ verfilmen, mit dem sie Brechts Naturgefühl näher gekommen wäre. Auf Bäumen mag es sich leichter leben als auf der Erde, wussten schon mancher weltflüchtige Heilige, aber all das muss man vergessen, um dieses französische Filmmärchen lieben zu können. Mit einigen Strichen und dramaturgischen Kniffen hätte „The Tree“ auch ein Kinderfilm werden können, denn wer außer achtjährigen Mädchen kann derart fest an die Erfüllung seiner Wünsche glauben? Beharrlich lenkt jedoch die Regie die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Gestalt der Mutter.

Charlotte Gainsbourg ist die prägende Gestalt dieser in eine arkadische australische Hügellandschaft eingebetteten Geschichte, und man sieht ihr umso lieber zu, als man sie noch als entfesselte Furie in Lars van Triers „Antichrist“ in Erinnerung hat. Nun, als um alle Sicherheit gebrachte Mutter, scheint ihr Gesicht zuweilen von der Ahnung einer großen Gefahr gezeichnet. Auf Bäume, Fantasien und Hoffnungen ist kein Verlass, weiß diese Frau, bevor der Sturm losbricht. Am Ende flackert hinter ihrem tapferen Lächeln die Angst vor dem unsichtbaren Abgrund, der längst in ihr wohnt.

Broadway, Capitol, Filmtheater am Friedrichshain, OmU im Babylon Kreuzberg und Central

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