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Meister des Legato: Der Pianist Nelson Freire.

© Decca/ Anna Oswaldo Cruz

Klavierabend Nelson Freire: So sehe ich das

Ein Pianist, der kein Risiko scheut: Nelson Freires faszinierendes Recital im Kammermusiksaal.

Mitten in Chopins erstem Scherzo, der letzten Komposition des Programms, ist Schluss. Nelson Freire bricht ab, murmelt, er sei jetzt zu müde für dieses Stück und spielt stattdessen Brahms’ A-Dur-Intermezzo, passenderweise ein mürbes Spätwerk mit dem Charakter eines Wiegenlieds. Der brasilianische Pianist gehört offenbar zu den Menschen, die in der Erschöpfung sehr ernst werden. Bachs c-Moll-Toccata zum Auftakt wirkt fast grimmig, Brahms’ dritte Sonate legt er in großen Bögen an, ohne publikumspädagogisch irgendwas hervorzuheben, Debussys „Children’s Corner“ interpretiert er als eine strenge Klangstudie, fast frei vom Charme des Pittoresken und Verspielten.

Ein paar falsche Töne gibt es auch, sogar in der technisch nicht übermäßig schwierigen a-Moll-Mazurka von Chopin. Und doch: Was ist das für ein faszinierend eigenwilliger Musiker. Freire, der in Südamerika schon als Wunderkind erfolgreich war, ist kein Unbekannter, aber doch auch in seinem achten Lebensjahrzehnt nach wie vor ein Geheimtipp. Er gehört seit vielen Jahren zur Künstlerfamilie um Martha Argerich, mit der Freire oft an zwei Klavieren oder vierhändig musiziert.

Ganz anders als die argentinische Pianistin pflegt er eine ausgeprägte Affinität zu Brahms, dessen Klavierkonzerte er mit dem Gewandhausorchester aufgenommen hat. Die sperrige dritte Sonate des Komponisten mit ihren Beethoven- und Schumann-Reminiszenzen dürften nicht viele der heute angesagten Virtuosen im Repertoire haben. Auffällig ist schon hier, dass Freire eher Fehler riskiert, als dass er mit dem Tempo nachgeben würde. Ziel seines fast Rubato-freien Spiels ist es offenbar, den Verlauf der Werke ausschließlich durch klangliche Differenzierungen zu verdeutlichen. Harmonische Überraschungen werden nicht vorab angekündigt, sondern durch die Gewichtung der Töne im Akkord herausgestellt.

Freire besitzt eine unendliche feine Anschlagtechnik

Freires unendlich feine Anschlagtechnik erkennt man schon optisch: Wenn er die Finger aus großer Höhe auf die Tasten federn lässt, in anderen Passagen die Handgelenke nach unten zieht oder gelegentlich, nach dem Vorbild von Horowitz, die Finger flach ausstreckt. Am schönsten kommt das bei Debussy zur Geltung, der ja ein Klangrevolutionär auch des Klavierspiels war. Dessen Tanz der Schneeflocken etwa realisiert der Pianist, indem er drei verschiedene Schichten klar voneinander absetzt. Dabei kennt Freire so viele Spielarten des Legato wie Eskimos Vokabeln für den Schnee.

Und in den plastisch ausphrasierten Stimmverläufen bei Bach und Chopin lässt sich der Wechsel von einer Hand zur anderen mit dem Ohr nicht unterscheiden. Gerne hätte man Chopins Scherzo ganz gehört. Freires Geste gegen die Gesetze des Konzertbetriebs aber wirkt so eigentümlich anrührend wie das ganze Konzert.

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