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Kultur: Kühne Prognose

Von Hitlers Feindaufklärung zum Bundesnachrichtendienst: Magnus Pahl über das frühe Wirken von Reinhard Gehlen.

Magnus Pahl hat ein Buch über die Auslandseinsätze der Bundeswehr herausgeben. Seine Doktorarbeit aus dem Jahr 2011 widmet sich auch einem Auslandseinsatz deutscher Militärs, aber einem ganz anderer Art: Hitlers Feldzug in Osteuropa gegen „Fremde Heere Ost“. Unter diesem militärischen Sammeletikett für Ziele der „Feindaufklärung“ verbarg sich nicht nur die Rote Armee der Sowjetunion, sondern ein gemischter Heerbann auch verbündeter und neutraler Staaten vom Balkan bis zum Fernen Osten, zu dem wegen ihrer Rolle im Pazifikkrieg zeitweise sogar die US-Army zählte, die erst nach ihrer Landung in Nordafrika den „Fremden Heeren West“ zugeschlagen wurde.

Da es nicht nach dem Kompass, sondern offenbar nach den geopolitischen Hemisphären Ost und West ging, genügten der Wehrmacht für die Aufklärung der „Feindlage“ zwei Abteilungen, in die 1938 die traditionelle deutsche Heeresaufklärung „Fremde Heere“ zerlegt wurde. Was die Zuordnung im Fall der USA oder selbst Italiens anging, das den „Fremden Heeren Ost“ zugeschlagen wurde, handelten die beiden Schwesterabteilungen nach Pahls Erkenntnissen „lageangepasst und somit flexibel“.

Das militärische Geschäft der beiden Abteilungen war die „Feindaufklärung“, und von deren Erfolgen und Misserfolgen im Osten handelt die umfang- und detailreiche Studie Pahls, der seit 2012 Sachgebietsleiter am Militärmuseum der Bundeswehr in Dresden ist, zumindest dem Titel nach. Vordergründig geht es also um die Abteilung „Fremde Heere Ost“, hintergründig aber vor allem um Person und Karriere ihres Chefs Reinhard Gehlen, der 1945 mit den Akten und Unterlagen seiner Abteilung in amerikanische Dienste übertrat und mit seiner „Organisation Gehlen“ den Grundstein für Konrad Adenauers Bundesnachrichtendienst legte. Seine eigenen Memoiren „Der Dienst“ geben zu diesem Thema wenig oder nur absichtsvoll dosierte Erkenntnisse her. Unter Militärs, Geheimdienstlern und Historikern ist sein Wirken an der Spitze von „Fremde Heere Ost“ höchst umstritten.

Auch dass Adolf Hitler, der ihn im Februar 1945 absetzte, sich von Generalstabschef Heinz Guderian „und seinem irrsinnigen General Gehlen falsch beraten“ fühlte, könnte sowohl für wie gegen ihn sprechen. Guderian selbst nannte in seinen Memoiren 1951 Gehlens Arbeit „mustergültig und absolut zuverlässig“. Dass sich seine Voraussagen stets bewahrheitet hätten, sei „eine geschichtliche Tatsache“. Ganz anders urteilt der amerikanische Historiker Gerhard Weinberg: Nach seiner Meinung fiel der deutsche militärische Nachrichtendienst „auf jede sowjetische List herein“, und sein Chef Reinhard Gehlen „stellte Rekorde auf in der Prognose von nicht eintretenden Ereignissen“.

Die reiche Quellenlage gestattet es Pahl, dieses Verdikt akribisch zu prüfen und im Ergebnis deutlich zu relativieren. Zwar habe Gehlen tatsächlich doppeldeutige und falsche Prognosen geliefert, für deren gröbste ihm Hitler die Schuld am Fall Ostpommerns gab. Andererseits habe Gehlens Abteilung traditionell kaum über nachrichtendienstliche Kompetenz verfügt, die ihr von Hitler sogar ausdrücklich verweigert wurde. Aber Gehlen habe es verstanden, die Abteilung „Fremde Heere Ost“ strukturell zu reformieren und so umzubauen, dass sein Ziel eines autarken Nachrichtendienstes bei Kriegsende in greifbarer Nähe war. Seine haltbarste Prognose war die frühzeitig gewonnene Erkenntnis, dass Hitlers Krieg schon längst verloren war. Deshalb ging auch seine kühnste Prognose auf, dass auch danach die Dienste seiner Abteilung gefragt sein würden. Was ihm zu einem vollwertigen Nachrichtendienst noch fehlte, fiel ihm jetzt zu. Hier beginnt eine andere Geschichte, die demnächst eine eigene Kommission aufarbeiten soll. Hannes Schwenger

Magnus Pahl stellt sein Buch am 13. November um 19 Uhr im Deutschen Historischen Museum in Berlin vor.

Magnus Pahl: Fremde Heere Ost.

Hitlers militärische Feindaufklärung.

Ch. Links Verlag, Berlin 2012. 464 Seiten, 49,90 Euro.

Hannes Schwenger

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