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Die Orangerie des Schlosses Herrenhausen ist Spielstätte der Kunstfestspiele.

© Kunstfestspiele/Helge Krückeberg

Kunstfestspiele Herrenhausen: Blick über die Buchsbaumkante

Diskurs statt Idyll in Hannover: das risikofreudige Programm der Kunstfestspiele Herrenhausen.

Putten paradieren zwischen Buchsbaumhecken, Blumen leuchten in barocker Symmetrie, dahinter lässt Europas höchste Fontäne das Wasser 82 Meter zum seidig blauen Himmel emporsteigen. Gerade mal zwei Stunden braucht man per ICE und U-Bahn, um von Berlin aus dieses Idyll zu erreichen – und mittendrin auf die Gegenwart zu stoßen, wo MP-Salven zwischen Trümmern von Mozarts Requiem krachen, über Krieg und Fußball diskutiert wird, Heiner Goebbels auf Monteverdi trifft und Markus Hinterhäuser bei einem „Trio für Sänger, Pianist und Filmprojektor“ in die Tasten greift. Was ist los in Herrenhausen?

Vor fünf Jahren lösten die Kunstfestspiele in Hannovers weltberühmtem Vorgarten die beschaulicheren Festwochen ab, und allmählich finden auch viele zurückhaltende Hannoveraner, dass Diskurse dem Ort nicht schaden. Schließlich hat in diesem norddeutschen Versailles schon Gottfried Wilhelm Leibniz über die Welt nachgedacht. Dass sie hier wie die beste aller möglichen Welten aussieht, ist erst recht ein Grund für den Blick über die Buchsbaumkante, den Intendantin Elisabeth Schweeger mit Konsequenz betreibt. Diesmal wagte sich zum Auftakt (und zum Abschied vom Inszenieren!) Christof Nel an Mozarts Requiem.

Im Galeriegebäude, von allen Stuhlreihen befreit, vernimmt man zunächst Tonkonserven, in denen sich Kriegslärm und Mozarttrümmer mischen. Dann nehmen Orchestergeräusche Gestalt an, bewegen sich auf den Beginn des „Requiem aeternam“ zu. Eine so durchsichtige wie autarke Musik, die der Südafrikaner Richard van Schoor geschrieben hat. Zu ihr eilen zwischen Gerüsten, Videos, Objekten, den Sängerknaben aus Tölz und den Besuchern sechs Personen umher – stürzen, rappeln sich wieder auf, formieren sich.

Es gibt Ballerspiele mit imaginären MPs, die keineswegs lächerlich wirken. Lächerlich, überholt wirkt die Gewalt selbst, die hier fast rituell nachgespielt wird. Denn nun erinnern erste wunderbare Stimmen (für die Schoor Gedichte von Ungaretti vertont hat) an die Schönheit, an die Empfindungsfähigkeit der Menschen. Es ist eine politische Kunst, die Nel anstrebt, und ihre Utopie ist formuliert in dem Werk, das immer näher rückt. Doch kaum lässt das Orchester des Stadttheaters Gießen (wo die Produktion wiederholt wird) die ersten traurigen, tröstlichen Töne des „Requiem“ ganz erklingen, da wird abgebrochen.

Mitsamt seinem Dirigenten Michael Hofstetter wandert das Orchester ans andere Ende, wir wandern mit. Nur Mozart bleibt, wo er ist. Denn nun wird zwar sein „Requiem“ aufgeführt, und man bewundert neben den Tölzer Knaben das Solistenquartett, in dem nicht nur der singuläre Sopran des Rumänen Valer Sabadus leuchtet. Doch vom Geschehen bleibt die Musik seltsam unberührt. Wo Mozart pur und ungebrochen zu hören ist, verlangt er volle Authentizität, Identifikation – und dafür ist in diesem diskursiven Modell kein Platz. Die Unmöglichkeit aber, Mozarts Utopie ganz zu uns zu holen, nimmt dem Abend keineswegs den Sinn: Man wird nicht unbedingt glücklicher, aber klüger.

Intendantin Elisabeth Schweeger verlässt die Kunstfestspiele vorzeitig

Die Orangerie des Schlosses Herrenhausen ist Spielstätte der Kunstfestspiele.
Die Orangerie des Schlosses Herrenhausen ist Spielstätte der Kunstfestspiele.

© Kunstfestspiele/Helge Krückeberg

Es sind solche Wagnisse, die einem Festival Spannung verleihen. Manchmal gehen sie wunderbar auf, etwa wenn Buster Keatons Stummfilm „The General“ (1926) auf Terry Rileys Minimal Music „In C“ (1964) trifft. Dem gigantischen Aufwand der Dampflok–Verfolgungsjagd steht eine Partitur gegenüber, die nur eine Seite mit 53 Tonfolgen umfasst. Neun Musiker des Neuen Ensembles – Geige, Cello, Holzbläser, Synthie, Klavier, Schlagzeug – versammeln sich in der Orangerie vor der Leinwand zu gezielter Improvisation. Unablässig pulsen und pleueln die Klänge wie das Eigenleben der Maschinen.

Statt Keatons Slapsticks platt zu vertonen, wird mit größter Sensibilität ein reagierender Horizont geschaffen – und den hat, das merkt man deutlicher als je zuvor, „The General“ auch. Der Film ist weit mehr als eine Folge genialer Gags auf Schienen, er zeigt auch das Groteske des Sezessionskriegs, durch den Buster dampft, mit kindlichem Staunen. Die Amerikaner der 1920er Jahre sahen ein historisches Ereignis vergagt, sie ließen den Film floppen. Dass erst die Generation von Terry Riley (Jahrgang 1935) seine anarchische Brillanz erkannte, macht die Kombination mit „In C“ auch historisch schlüssig.

Dass Gewagtes oft Zeit braucht, um anzukommen, mag aber besonders die konservative Opposition in Hannover der Intendantin nicht zugestehen. Weil Schweegers Konzept der Grenzgänge nicht gleich für volle Säle sorgte, stand die Österreicherin seit Amtsantritt unter Beschuss: Zu teuer sei das, zu speziell. Obwohl von der SPD-Regierung gewollt, sah sie sich finanziell auf wackeliger Basis: Nur 600 000 Euro, die Hälfte des Budgets, ist der Stadt die Sache wert. Erfahrungsgemäß brauchen Hannoveraner fünf Jahre, um sich mit Innovationen zu befreunden. Jetzt ist es so weit – und leider zu spät: Die Intendantin geht vorzeitig. In Herrenhausen wird wohl nur die Fontäne das Niveau halten.

Noch bis 1. Juli und vom 19. bis 28. September, www.kunstfestspiele.hannover.de

Volker Hagedorn

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