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Wohin des Wegs? Zwei Besucherinnen auf der Buchmesse.

© Jens Kalaene/dpa

Leipziger Buchmesse: Auf Orientierungssuche

Beobachtungen auf der Leipziger Buchmesse zwischen Politik- und Literaturdebatten. Ein Resümee des Jahrgangs 2017

Wer sich dieser Leipziger Buchmessentage durch die täglich voller werdenden Hallen mühte, dürfte bemerkt haben, wie selbst ganz hinten, in Halle 4, im sogenannten Café Europa und seiner Umgebung – den Ständen der Länder Osteuropas, der Schweiz und Österreichs – der Andrang ähnlich groß war wie im Glashaus, wo die Lesungen der Stars auf dem Blauen Sofa oder den Bühnen der anderen TV-und Radiosender stattfinden. Das Bedürfnis nach Aufklärung, nach Reflexion und Durchdringung dessen, was in Europa in Zeiten des Terrors und in der Welt in der Zeit eines Trumps vor sich geht und wie man den Krisensymptomen beikommen kann, ist groß.

So ist es bei Diskussionen im Café Europa beispielsweise zum Populismus in Österreich und Deutschland genauso schwer einen Platz zu ergattern wie bei Lesungen von Martin Suter. Nicht anders verhält sich das bei der Runde, die unter dem Titel „Wer sind ‚Wir‘ und wer gehört dazu“, den gesellschaftlichen und demografischen Wandel in Europa diskutiert. Die stellvertretende Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Naika Foroutan, spricht davon, dass man sich in den Einwanderungsgesellschaften Europas, in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich, „eine neue Geschichte erfinden“ müsse – weil die Alteingesessenen und die Zuwanderer keine gemeinsame verbinde.

Nur Krisen verändern die Gesellschaft

Der Schriftsteller Thomas Meinecke mit seiner poptheoretischen Sozialisation verweist darauf, dass Identitäten immer nur Konstrukte seien und sich immer wieder neu zusammensetzten, man überhaupt mehr mit dem Identitätsbegriff als dem Klassenbegriff arbeiten müsse. Und der Autor und Migrationsexperte Mark Terkessidis erinnert sich angesichts der vermeintlich aktuell so aus den Fugen geratenen Ordnung in Europa, dass es den Populismus schon in den neunziger Jahren gegeben habe, dass George W. Bush unter Zuhilfenahme von Fake-News in den Irak einmarschierte, und, so Terkessidids weiter, dass eigentlich während seines nun 50-jährigen Lebens immer von Krisen die Rede war. „Nur Krisen verändern die Gesellschaft“, ist man sich auf diesem Podium einig.

Genauso wie darüber, dass es den regierenden Politikern an Visionen mangele. In einer Runde über den Populismus bringt es der österreichische Journalist, Sachbuchautor und Kapitalismuskritiker Robert Misik auf den Punkt: „Die Mainstream-Akteure haben keinen Plan mehr.“ Vom „Phänomen der rhetorischen Enthemmung“ ist hier viel die Rede, vom Diktat der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, aber auch von den Ängsten vieler, die man ernst nehmen müsse. Was die Schriftstellerin Eva Menasse aber entschieden zurückweist: „Dieses Angstgedöns ist mir viel zu viel Gedöns“.

Die Buchmesse war diesmal politisch enorm aufgeladen

Man spürt die Besorgnis vieler, ihre Bereitschaft, sich noch aktiver und bewusster als vor zehn, fünfzehn Jahren gegen Negativ-Entwicklungen zu stemmen, sich einzusetzen für das Liberale, Großzügige, Integrative, wofür ein geeintes Europa immer eingestanden ist. Zumal, so schön hatte es der französische Schriftsteller Mathias Énard bei der Eröffnung ausgedrückt, Europa, und zwar in Person der aus der griechischen Mythologie stammenden, „von einem Gott des Nordens“ entführten libanesischen Prinzessin, „eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute“ war. Doch, diese Leipziger Buchmesse ist eine politisch enorm aufgeladene gewesen. Dabei spielte der Terrorakt in London nur im Hintergrund eine Rolle, zu sehr hat da eine gewisse Gewöhnung eingesetzt, zu gut passt er ins Bild der diskutierten Stoffe.

Es ist da geradewegs eine Erholung, dass die Branche auch ihren üblichen Geschäften nachgeht. Nora Gomringer erklärt zum Beispiel, dass Bücher nie von irgendjemandem erwartet, sondern erst bei Erscheinen „gemacht“ würden; Clemens Meyer gibt sich bei einer Befragung gewohnt widerborstig, erklärt, dass der Kern seiner Erzählungen kein autobiografischer sei – von wegen Rennbahn oder seiner Zeit als Wachmann –, sie seien inspiriert von Isaak Babel oder dem frühen Hemingway.

Der „Report aus dem Innern der Macht“ verkauft sich 800 000 Mal

Von Krisensymptomen innerhalb der Branche hört man wenig dieser Tage, hie und da ist von immer geringeren Verkäufen die Rede, was womöglich selbst Julian Barnes oder Takis Würger zu Bestsellerautoren gemacht hat. Andererseits freut sich der Siedler Verlag gerade über einen Nummer-eins-Titel auf der Sachbuchbestenliste: Robin Alexanders „Report aus dem Innern der Macht“ über Merkels Flüchtlingspolitik, „Die Getriebenen“. 80000 Exemplare seien davon inzwischen im Handel, weitere Auflagen in Vorbereitung, vermeldet der Münchener Verlag, und konstatiert: „Dieser Erfolg ist ein erneuter Beweis dafür, welch hohen Stellenwert das seriöse politische Sachbuch für eine konstruktive politische Debatte einnehmen kann.“

Also ein Buch zur Zeit, die mit dem Schönen gerade weniger anfangen kann. Und in der – das zeigte diese Messe – nach der Analyse und vor möglichen Lösungen das Prinzip Hoffnung regiert. Am Ende bleibt dann vor allem ein weiterer so richtiger Satz von Énard im Kopf: „Wir sind alle nur Spaziergänger auf diesem Planeten“.

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