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Leipziger Buchmesse: Eine Welt ist nicht genug

Fantasybücher sind Bestseller, stehen aber unter Schundverdacht. Das soll sich ändern. Die Leipziger Buchmesse macht den Anfang.

Das Zitat hat Oliver Graute ziemlich zugesetzt, es torpediert seine Mission. Mit Blick auf die Bestsellerlisten hat Elke Heidenreich 2011 auch etwas über Fantasyliteratur gesagt: „Es ist entsetzlich“, hat sie gesagt: „Vampire, Trolle, Elfen, Morde“, es fehle die Mitte, gebe nur die oft unlesbare Hochliteratur oder totalen Schund.

Das saß. „So ein Satz einer bekannten Kritikerin und Autorin macht unsere ganze Arbeit zunichte“, seufzt Graute, 40, in sein Mannheimer Telefon. Er ist derjenige Verleger, der sich die Rehabilitierung der Phantastischen Literatur vorgenommen hat. Er hat mit anderen aus der Szene den Verein „Phantastische Akademie“ gegründet und außerdem den „Seraph“ erfunden, einen neuen Preis für Phantastische Literatur, der heute auf der Leipziger Buchmesse vergeben wird.

Es ist das erste Mal, dass die von Publikumspreisen dominierte Fantasybranche einen Preis auslobt, den eine Fachjury aus Lektoren und Journalisten verleiht. Seit mehr als zehn Jahren steigen die Verkäufe des Genres. Fantasy macht inzwischen rund acht Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes in der Belletristik aus. Laut Börsenverein des Buchhandels sind das 9,734 Milliarden Euro. Jetzt sei es Zeit, das als literarisch minderwertig gebrandmarkte Genre aus der Schmuddelecke zu holen.

Graute ist gelernter Grafiker und wie so ziemlich jeder, den man spricht, als jugendlicher Leser zur Fantasy gekommen. Wobei Fantasy nicht nur Lesen bietet, sondern mehrere Medien bedient: Computerspiele, Comics, Internetforen. „Literatur und Lifestyle vermischen sich ziemlich stark“, sagt Graute, „und ein gewisses Nerdtum gehört dazu.“

Trotzdem nagt es an ihm, dass er seit 17 Jahren, so lange ist er beim Verlag „Feder und Schwert“, immer wieder erklären muss, dass Fantastik keine Lektüre ist, für die man sich schämen muss. Im Gegenteil: Es sei die älteste Literatur der Welt, basierend auf Sagen und Märchen jeder Kultur über die Bibel hin zu E.T.A. Hoffmann, Edgar Allen Poe und Franz Kafka. „Selbst Theodor Storm hat schon eine Vampirgeschichte geschrieben“, sagt er, und Goethes Faust! „All das gehört dazu.“ Dass Schriftsteller, die es wagen, nur mit den Mitteln der Fantasie aus dem Nichts neue Welten zu erschaffen, schlechter angesehen sein sollen als die, die immer nur über ihre eigene schreiben, kann er nicht verstehen.

In Deutschland hat der Stuttgarter Verlag Klett-Cotta die Fantasy hoffähig gemacht, als er 1969 J.R.R. Tolkiens schon 1954 in England erschienene Trilogie „Der Herr der Ringe“ in seiner eigens gegründeten Hobbit-Presse herausbrachte. Mit diesem weltweit mehr als 150 Millionen mal verkauften Epos um Hobbits, Menschen, Elben, Zwerge und Orks beginnt die moderne Fantasyliteratur. Später lassen etwa Bestsellerautoren wie Marion Zimmer Bradley, Michael Ende, Joanne K. Rowling oder Stephenie Meyer mit ihren „Bis(s)“-Vampirromanzen die Umsätze wachsen. Nach Verfilmungen klettern sie oft sprunghaft nach oben. Aktuell stehen die beiden US-amerikanischen Autoren Suzanne Collins und Christopher Paolini mit ihren Fantasy- Welten „Panem“ und „Eragon“ auf der „Spiegel“-Bestsellerliste.

Die Leser sind deutlich mehr Frauen als Männer – 70 zu 30 schätzen Lektoren und Verleger das Verhältnis, was damit was zu tun hat, dass generell mehr Frauen als Männer Belletristik lesen und das Subgenre „Romantasy“, also die Liebesgeschichte mit übersinnlichen Wesen, gerade im Trend liegt.

Die Gegenwelt zu diesem eskapistischen Süßholzgeraspel, dem der Dauervorwurf gegen die Fantasyliteratur, antimoderne Wirklichkeitsflucht zu propagieren und der Infantilisierung der Literatur Vorschub zu leisten, durchaus zu Recht gemacht wird, liegt in einer Bar in Berlin-Mitte. Hier tagt seit sieben Jahren an jedem zweiten Donnerstag in Monat die Lesebühne „Stirnhirnhinterzimmer“. Sie war die erste in der Stadt, die sich auf Phantastik spezialisiert hat, und der Einlasser sieht aus wie einer aus der „Rocky Horror Picture Show“. Das Publikum trägt schwarz, hier und da auch Silberschmuck oder lange Zöpfe, und lauscht friedlich und sehr aufmerksam den mehr ironischen als übersinnlichen Texten der Autoren Boris Koch, Markolf Hoffmann und Christian von Aster. Letzterer ist mit seinem Roman „Der letzte Schattenschnitzer“ für den neuen „Seraph“-Preis nominiert.

Von Aster, 38, lebt in Leipzig, dreht Low-Budget-Filme, liest auf Gothic- Wave-Treffen auch mal vor 1500 Leuten und ist Schreiber der Burg zu Querfurt in Sachsen-Anhalt. Wer seine mit äußerster Dringlichkeit vorgetragene satirische Adaption des „Faust“ hört oder seine kunstvollen Imitationen altchinesischer Märchen liest, weiß, dass diesen untersetzten Glatzkopf keine Dämonen, sondern literarische Ambitionen antreiben.

Sein Respekt gelte der menschlichen Schöpferkraft, erzählt er nach dem langen Fantastikabend am nächsten Morgen. Vor ihm liegt ein großes Notizbuch, in das er mit einem Kugelschreiber in Schlangenform seine Ideen schreibt. „Wir sind geschaffen, um zu schaffen“, sagt von Aster. Dass bei ihm das Ergebnis Fantastik heißt, ist kein Konzept, sondern das, was passiert, wenn man sich gestattet, nicht in den Kategorien der Realität zu denken. Unnötig zu sagen, dass ihn der Fantasyeinheitsbrei auf den Büchertischen der Kaufhäuser nervt. Nicht von ungefähr hat ein großer Fantasyverlag seinen Roman, der von der Idee lebt, dem Schatten eines jeden Menschen ein Eigenleben zuzugestehen, als „zu ambitioniert“ abgelehnt. Klett-Cotta schließlich hat ihn herausgebracht. „Ein Ritterschlag“, frohlockt der Autor, der wie die meisten deutschen Fantasyliteraten oft für wenig Geld in subversiven Kleinverlagen publiziert.

Auch von Aster hat keine Lust mehr, sich in wuchernden Subgenres, die unter dem Begriff Fantasy zusammenlaufen, zu verlieren. „Der Einbruch des Paranormalen, des Unerklärlichen in die Realität“ lautet seine Definition, die nicht ganz der von Literaturwissenschaftlern oder Buchmarktanalysten entspricht.

In den Fantasywelten, die man an einer Landkarte vorne im Buch und an einem üppigen Anhang mit Namensregister, Zeitrechnung, Maßeinheiten und sonstigen Serviceinformationen zur beschriebenen Welt erkennt, gibt es diese Wirklichkeit nicht mehr. Genau von der wollen Fantasyleser ja Urlaub machen. Gerne möglichst lange, weswegen epische Wälzer und Reihen besonders gut gehen.

Das hat auch Tobias O. Meißner erkannt und sein von „FAZ“ und „Spiegel“ gleichermaßen gelobtes Horrorromanprojekt „Hiobs Spiel“, mit dem er vor zehn Jahren eher zufällig in die Phantastische Literatur reinwuchs, auf 50 Jahre angelegt. Nun kommt er, weil er auch noch anderes schreibt, nicht mit der Fortsetzung hinterher. Auch er ist für den neuen Literaturpreis nominiert.

Sanft lächelnd steht der schlaksige Mann im schwarzen Kapuzenpulli in seiner Berlin-Neuköllner Wohnung. Seiner glatten Stirn ist nicht anzusehen, wie es dahinter gewittert. Meißner kann auf Papier drastisch werden. Privat zeigt er gern seinen Klostergartenblick. Vor dem Fenster ein Idyll aus Grün und Backsteingotik: die nebenan gelegene Pfarrei. Der gehört auch die Wohnung, die der 44 Jahre alte Schriftsteller bewohnt. Der Pfarrer hätte gerne einen Katholiken drin gehabt, aber ein Fantasyautor hat immerhin auch metaphysische Neigungen.

Schon als Kind hat Meißner die Welt verfremdet wahrgenommen und Geschichten von Vampiren und Werwölfen mehr vertraut, als denen, die vorgeben, einfach nur die Realität abzubilden. Mit seinem Debüt „Starfish Rules“ wurde der studierte Kommunikationswissenschaftler 1997 sofort nach Klagenfurt zum Literaturwettbewerb eingeladen. Hingegangen ist er nicht. Im wirklichen Leben liegen ihm keine Gladiatorenkämpfe und überhaupt: „Literaten sind kein Entertainmentmaterial.“ Lieber macht er sein eigenes Ding und hat sich dafür freiwillig ins Genreexil begeben, wie er es nennt. „Eigentlich müsste ‚Tod dem Naheliegenden' auf allen meinen T-Shirts stehen“, sagt er. Das ist literarisch, aber auch praktisch gemeint. Er hat kein Handy, keine Mail-Adresse, keine Webseite und keinen Facebook-Account mehr, ist aber ein Rollenspiel- und vor allem Computerspielfreak. „Ein inspirierendes, wahnsinnig komplexes Erzählmedium“, sagt er.

Meißner sieht sich als Teil einer Erzähltradition, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit die überwiegende war. Der realistische Roman ist eine junge Erscheinung in der etwa 3000 Jahre alten Geschichte der Erzählkunst. Warum den zum Maß machen? Diese Bedenken hindern Meißner im Gegensatz zu den nur auf den Unterhaltungs- und damit Verkaufswert schielenden Zunftkollegen auf den bunten Fantasybüchertischen aber nicht daran, fremde Welten als Metapher auf die wirkliche zu bauen.

Sein neues Buch „Barbarendämmerung“, das im April im Piper-Verlag erscheint, speise sich direkt aus seinem Neuköllner Leben. Und der für den „Seraph“-Preis nominierte Militärroman „Die Soldaten“, der in einem Endzeitszenario die Geschichte einer Rekruteneinheit in der letzten Festung vor unbekanntem Feindesland erzählt, sei eine Parabel auf Auslandseinsätze der Bundeswehr, sagt Meißner. Darin reibt sich eine Rekrutentruppe an der Furcht vor einer fremden Kultur, Überforderung, Verwirrung und militärischen Hierarchien auf. Genretypische Zutaten wie Magie und Fabelwesen kommen zwar vor, aber nur am Rande. Dass ausgerechnet dieses eher sperrige Buch nun vielleicht in Leipzig den Preis gewinnen könnte, macht Meißner froh. Er hofft schon lange, dass die Versöhnung von Hochliteratur und Fantasy irgendwann mehr ist als eine Schriftstellerfantasie.

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