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Literatur: Die Zukunft kam nur bis gestern

Zwei Leben: Sten Nadolny vergewissert sich erfindend und erzählend mit "Weitlings Sommerfrische" seiner selbst.

Wer würde nicht gern hin und wieder die Uhr zurückdrehen, die Zeit anhalten, mit dem Gedanken an ein anderes Leben nicht nur spielen, sondern es austesten? Weniger attraktiv ist so eine Zeitreise möglicherweise, wenn man dafür sehr weit in die eigene Jugend zurückgehen muss. Genau das widerfährt dem Helden und zeitweiligen Ich-Erzähler in Sten Nadolnys neuem Roman „Weitlings Sommerfrische“, dem 68-jährigen pensionierten Richer Wilhelm Weitling.

Der unternimmt eines schönen Sommertages eine kleine Segeltour auf dem Chiemsee, gerät in ein unerwartet schnell aufziehendes Unwetter, kentert mit seinem Boot und findet sich in den Strudeln des Wassers und der Erinnerung als unsichtbarer „Geist ohne Physis“ wieder, „gekettet an einen Sechzehnjährigen aus Stöttham bei Chieming, und wir schreiben offenbar 1958“. Schon damals erlebte Weitling einen Segelunfall – und wurde gerettet.

Das ist die Ausgangskonstellation des Romans, den Nadolny in zwei Richtungen entfaltet. Zunächst immer wieder zurück in die fünfziger Jahre, in eine Zeit, in der der junge Wilhelm bei seiner geistreichen, auf Konventionen bedachten Mutter und seinem Vater, einem Schriftsteller, wohlbehütet aufwächst und seine ersten wichtigen Lebens-, Lektüre- und Liebeserfahrungen macht. In eine Zeit, in der „wir Buben“ nach Patronen aus dem Zweiten Weltkrieg suchten und die Weitlings noch „zwischen warmen ,Abendessen’ und kaltem ’Abendbrot’ unterschieden“. Das kalte Abendbrot wurde „auf einer Drehscheibe, dem sogenannten Cabaret angeordnet“.

Da sich der alte Wilhelm aber in seinem „Jugendarrest“ nicht recht wohlfühlt – sein damaliges Ich ist eben ein ganz Anderer geworden –, sucht er wie in einem modernen Computerspiel nach Ausgängen: „Wenn das hier nun immer weitergeht, dann ist wahrscheinlich mein Leben, mein eigenes, mir vertrautes Leben längst beendet, meine Zukunft existiert nicht mehr, sie kam nur bis gestern.“

Sten Nadolny lässt ihn diesen Ausgang bald finden und gibt seinem autobiografisch grundierten Roman eine weitere hübsche Wendung. Aus Richter Weitling wird in der Gegenwart, nach seiner Rettung aus dem Chiemsee-Unwetter, noch einmal ein Anderer. Ein Schriftsteller gleichen Namens, der plötzlich nicht nur eine Frau, sondern auch eine Tochter und ein Enkelkind hat – und der wie der Jüngling Ende der fünfziger Jahre einige Züge Nadolnys trägt und als „Spezialist für die Neuformulierung von Binsenweisheiten“ gilt.

Aus den Erinnerungsskizzen wird endgültig ein Spiel mit der Biografie, ein Spiel mit dem Leben im Konjunktiv und im Indikativ. Dieses Spiel aber, bei allem Charme, bei aller Gewitztheit, mit der Nadolny hier zwischen seinen Figuren und deren Ichs changiert, ist auffallend bedächtig erzählt, als versuche Nadolny wirklich, die Zeit zu dehnen, als habe er ein weiteres Mal die Langsamkeit entdeckt. Und man fragt sich, wie auch Weitling einmal, zu was für einer Erkenntnis das Ganze eigentlich führen soll: „Was aber soll das, was mir hier widerfährt? Soll ich etwas lernen?“

Weitling lernt, dass die Erinnerung trügerisch sein kann – eine Binsenweisheit. Dass sie umso unzuverlässiger wird, je weiter man sich an die Gegenwart heranbegibt – was keine Binse ist, sondern wissenschaftlich belegt. Und dass man auch im hohen Alter grundlegende Dinge nicht begriffen haben kann, wie zum Beispiel die Frage, ob es nun einen Gott gibt oder nicht. Mit „Weitlings Sommerfrische“ hat Sten Nadolny sich „erzählend und erfindend“ seiner selbst vergewissert, seiner Biografie, seiner Wunschbiografie. Nach der Lektüre ist man als Leser dann ganz einverstanden mit der Linearität der Zeit. Ein Leben reicht vollkommen.Gerrit Bartels

Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische. Roman. Piper Verlag, München 2012.

220 Seiten, 16, 99€.

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