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Bewusstseinsströme des 20. Jahrhunderts. Der ungarische Erzähler Péter Nádas. Foto: Gáspár Stekovics/Rowohlt

© Gáspár Stekovics/Rowohlt

Memoiren von Péter Nádas: Die heidnischen Listen des Körpers

Péter Nádas verwebt in „Aufleuchtende Details“ winzige Erinnerungsmomente zu einem großen Ganzen.

Wir hängen an der Vorstellung, „dass das Leben mit der Geburt anfängt und mit dem Tod endet“, sagte Péter Nádas einmal. „Aber so einfach ist es nicht, und jeder weiß das. Es gibt Kausalität, zweifellos, aber uns beherrscht das Chaos. In der Literatur führt Kausalität in die Irre.“ Was Nádas 2012 über seinen 1732 Seiten starken Roman „Parallelgeschichten“ gesagt hat, gilt genauso für das mit 1278 Seiten vergleichsweise übersichtliche, autobiografische Werk „Aufleuchtende Details“. Ja, es gilt für alle seine Bücher, die irgendwo einsetzen und irgendwo aufhören und mit denen man niemals fertig werden kann, ganz egal, wie umfangreich sie sind. Eines greift ins Nächste, und dabei verweisen sie so sehr aufeinander, dass sogar die Titel austauschbar sind. „Parallelgeschichten“, „Buch der Erinnerung“, „Ende des Familienromans“: Das alles könnte auch über „Aufleuchtende Details“ stehen.

Umgekehrt gilt das hier praktizierte Erzählen in einer Vielzahl blitzhafter Momentaufnahmen, aus denen sich die unabschließbare Totalität des Lebens ergibt, für sein ganzes Werk. All die Details mögen für sich genommen gar nicht so wichtig und vielleicht sogar langweilig sein; in der Summe ergibt sich daraus dennoch ein Bewusstseinsstrom der Bilder und eine faszinierende Lektüre.

Nádas begann seine Berufslaufbahn in den 60er Jahren als Fotograf. Diese Lehre prägte seinen Blick und sein Schreiben grundlegend. „Aufleuchtende Details“ bedeutet ja nichts anders, als die Welt durch ein Objektiv zu betrachten und scharf zu stellen – nur dass der Schriftsteller Nádas sich nicht mit dem befasst, was er vor Augen hat, sondern mit dem, was die Erinnerung ihm bietet. Den Fokus richtet er dabei hartnäckig auf die 50er Jahre der eigenen Jugend in Budapest. Der Aufstand 1956, Versorgungsnot und stalinistische Überwachung prägten sich ein. Brotschlangen, russische Panzer, abgedunkelte Räume: In den „Parallelgeschichten“ kehrte er immer wieder zu diesem Fixpunkt der Geschichte zurück.

„Aufleuchtende Details“ setzt etwas früher ein, eigentlich mit dem Tag seiner Geburt am 14. Oktober 1942 und der wiederkehrenden Frage, welchen Sinn es haben könnte, in eine Welt und in eine Gesellschaft hineingeboren worden zu sein, in der es Deportationen, Konzentrationslager, Krieg und Massenvernichtung gab.

Die Eltern sterben früh

Nádas wurde in eine jüdisch-kommunistische Familie hineingeboren. Seine Eltern waren im Widerstand gegen den Faschismus und die damals Ungarn beherrschenden „Pfeilkreuzler“. Konspiration, Verschwiegenheit, Disziplin bestimmten ihr Handeln. Nádas entging nicht, wie sie in der Nachkriegszeit ihre Biografien den neuen Erfordernissen anpassten, zum Beispiel als eine Tante ihre Memoiren umorganisierte, um den Ansprüchen der Partei gerecht zu werden. Seine Mutter starb 1955 an Krebs, der Vater brachte sich 1958 um. Das steht gleich am Anfang des Buches in einer eindrücklichen Szene: Eigentlich wollte der Vater auch die beiden kleinen Söhne mit in den Tod nehmen, brachte es dann aber nicht über sich, weil der kleine Bruder von Péter Nádas so süß dalag im Schlaf.

Doch Vater und Mutter bleiben präsent. Nádas erzählt nicht chronologisch. Alles ist zugleich da, nichts geht verloren. Die Sprengung der Margaretenbrücke über die Donau durch die abrückende deutsche Wehrmacht ist eine der frühesten Erinnerungen des Kindes, wie auch die einstürzende Wand bei einem Bombenangriff, die ihn unter sich zu begraben droht. Es sei unmöglich, dass er sich daran erinnere, erfährt er später in seiner Verwandtschaft, er sei doch viel zu klein gewesen. Doch er beharrt auf diesen Bildern: aufleuchtende Details.

Es ist nicht der Familienroman, der bei Nádas endet, sondern vielmehr die Familie selbst, auch wenn von ihr aus die ganze Gesellschaft und die Geschichte durchdekliniert werden. Die Familie ist der Schutzraum in Zeiten der Bedrohung. Sie ist aber auch selbst etwas Bedrohliches, Vernichtendes – und auch das macht Nádas deutlich. So etwa für den Onkel, der in seiner Homosexualität geächtet und allein gelassen wird, bis er sich eines Tages umbringt. Selbstmord ist ein verbreitetes Phänomen in dieser Familie; auch Péter Nádas berichtet von einem Selbstmordversuch, den er in einer finsteren Stunde unternahm, und davon, dass er Jahrzehntelang manisch über ein mögliches Ende nachdachte.

Familiengeschichte als Geschichte des 20. Jahrhunderts

Um „Memoiren eines Erzählers“, wie der Untertitel etwas gemütlich suggeriert, handelt es sich nur bedingt, denn Nádas geht weit über das hinaus, was ihm widerfuhr. Er schreibt mit seiner Familiengeschichte eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die in einzelnen Passagen, vor allem in denen über jüdische Vorfahren, bis tief ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Es ist die Geschichte vom Untergang des Bürgertums im Kommunismus und eine Feier all dessen, was dabei verloren ging. Auch das sind nur Details, und doch ist es eine ganze Welt. So gibt es eine grandiose, viele Seiten umfassende Darstellung der Waschtage und der Tätigkeit der Waschfrauen noch in den 20er Jahren. Sie waren die heimlichen Herrscherinnen der bürgerlichen Familien, wussten sie doch aus den diversen Flecken in Unter- oder Bettwäsche sehr genau auf die jeweiligen Lebenssituationen zu schließen, auf Orgien, Seitensprünge, Menstruationsbeschwerden. Wer so viel weiß, mit dem stellt man sich besser gut.

Überhaupt ist es immer das Körperliche, von dem aus Nádas die Welt erschließt. Die Rippen des spindeldürren Großvaters, seine spitzen Knie, wenn er auf ihnen ritt, schrieben sich in seine Erinnerung ein. Unvergesslich auch der Moment, in dem der Vater ihm seine Narben auf den Beinen erklärte: weil er verhaftet und gefoltert wurde und man ihm dabei die Beine brach. Oder er erinnert sich, wie er an der Hand einer Haushälterin zur Muttermilch-Sammelstelle ging, um Milch für den kleinen Bruder abzuholen, weil die eigene Mutter nicht genug produzierte. Das Wort habe ihn schockiert, weil es auf ein Problem verwies, das ihn sein Leben lang beschäftigen würde: „das Problem der Begegnung von Menschlichem und Animalischem“.

Der Mensch besteht schließlich nicht nur aus Bewusstsein und logischem Handeln, sondern auch aus einem Körper, in dem permanent Dinge geschehen, von denen er so wenig weiß wie von fernen Regionen des Universums. Doch all das gehört für Nádas dazu, wenn es darum geht, biografisch und zeitgeschichtlich zu erzählen. „Zuerst muss man die Sehnsüchte und Leidenschaften des eigenen Körpers, seine die gesellschaftlichen Regeln ausgrenzende heidnische List verstehen, um die Gefühle und Triebe vor jeglicher äußerer Einmischung schützen zu können.“ Das Animalische entdeckt Nádas nicht nur im Erotischen, sondern auch in der Gewalt, wenn er die Lust eines Massenmöders am Töten beschreibt.

Sprache als Wirklichkeit produzierende Kraft

Dem gegenüber steht die Sprache als eine eigene, Wirklichkeit und Sinn produzierende Kraft. Wenn es angesichts des „tiefen Gefühls einer Existenz ohne Sinn“ doch eine Hoffnung gibt, dann resultiert sie aus der Sprache. Deshalb schreibt Nádas auch sehr viel darüber, wie er als Kind Worte zu erlauschen und von ihrem Klang her zu verstehen suchte. Erst allmählich begriff er, dass man Wörter, Klang und Bedeutungen nach Belieben trennen kann. Sprache ist etwas, das wir vorfinden, und doch können wir uns darin ganz individuell ausdrücken. „Nicht ich machte mir die Wörter, die Informationen, die Emotionen oder die Phänomene zu eigen, sondern die Wörter und Phänomene ließen mich mitstrudeln.“

Was ist das Bewusstsein überhaupt? Auch das sprechende, reflektierende, beobachtende Ich, so wie Nádas es sieht, hat keinen Anfang und kein Ende. Die Genealogie müsste ja zurückreichen bis zu Adam und Eva. Er begnügt sich mit dem Urgroßvater. Und das Bewusstsein müsste in jedem Moment alles enthalten: äußeres Geschehen, Gedanken, Erinnerungen und körperliches Erleben. Nádas bezeichnet dieses Ich als „Gesamtheit der Eigenschaften eines Menschen“ und vergleicht es mit einer „mehr oder weniger ausgekühlten, dünnen Erdkruste, unter der das rein physische Reich der Magma brodelt und bebt.“ Das ist ein starkes, kraftvolles und beängstigendes Bild. Es bedeutet auch, dass dieses Ich nicht so leicht zu bändigen ist. Alle historische Erfahrung belegt das. Es ist viel mehr als dieses wohlgeordnete bürgerliche Individuum oder kommunistische Kollektivwesen, das in der Geschichte agiert. Wenn Nádas davon erzählt, wird jederzeit auch die brodelnde Magma sichtbar. Das macht seine Bücher jenseits aller Details zum Ereignis. Mit Christina Viragh hat er eine großartige Übersetzerin, deren Sprache nichts davon verloren gibt.

Péter Nádas: Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Reinbek 2017. 1278 Seiten, 39,95 €.

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