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Zeitgenössische Zeichnung von Wladimir Iljitsch Lenin, der als Führer der Oktoberrevolution 1917 zu Soldaten und Bürgern spricht.

© dpa

Michail Ossorgins „Zeugen der Zeit“: Vor der Oktoberrevolution

Michail Ossorgin ist ein moderner Klassiker der russischen Literatur. Sein Roman „Zeugen der Zeit“, der erstmals auf Deutsch erschienen ist, erzählt von der Russischen Revolution von 1905.

Zu Beginn von Michail Ossorgins Roman „Zeugen der Zeit“ ist die Welt noch in Ordnung, Gut und Böse sind „nicht voneinander geschieden“. Jedenfalls in der Wahrnehmung der Protagonistin und späteren Terroristin Natascha, die in der Nähe des Dorfes Fjodorowka aufwächst, einen halben Tagesritt von der Provinzhauptstadt Rjasan und weit, weit weg von Moskau. Natascha lebt behütet auf einem Landgut, an dem das Wasser des Flusses Oka ebenso vorbeirauscht wie die Zeit selber. Dass im Falle des lange vergessenen Schriftstellers Ossorgin dieses Idyll nicht unbeschädigt bleiben kann, weiß jeder, der sein im vergangenen Jahr neu übersetztes, international gefeiertes Debüt „Eine Straße in Moskau“ gelesen hat.

Es stammt aus dem Jahr 1929, wurde im Pariser Exil publiziert und erzählt von den blutigen Wirren der Oktoberrevolution von 1917. Schon im ersten Satz macht der Autor auch in den jetzt zum ersten Mal in deutscher Sprache vorliegenden „Zeugen der Zeit“ unmissverständlich klar, woran man bei ihm ist: In einer Schlüsselszene lässt er den grobschlächtigen Kutscher Pachom einen Hundewelpen aus Versehen zu Brei treten und zeigt so, wie gefährdet Naivität und Unschuld sind. Die „Entdeckung des Todes“ lässt Natascha am Sinn des Lebens zweifeln. Ihre geordnete Welt gerät aus den Fugen. Nihilismus und Anarchismus sind vorprogrammiert.

Ossorgin gilt als moderner Klassiker

Die Lektüre „jenes deutschen Modephilosophen“ festigt während eines Studiums in Moskau zudem ihren Atheismus. Gemeint ist natürlich Nietzsche, dessen „Poesie des erhabenen Übermuts“ sie vor allem fesselt. Ossorgin, der 1878 in Perm, einer Stadt im Vorland des Uralgebirges geboren wurde und 1922 von Russland nach Frankreich emigrieren musste, ist ein moderner Klassiker, wenn auch unverkennbar ein Kind des 19. Jahrhunderts, mithin des Zarenreiches.

Sein Roman, der in den zwei zusammenhängenden Büchern oder Fortsetzungsromanen „Zeuge der Geschichte“ (1932) und „Buch vom Ende“ (1935) packend von Nataschas Schicksal und dem ihrer Weggefährten erzählt, sollte daher eher vom Revolutionär und Anarchisten Michail Bakunin (auch von Dostojewski, vor allem den „Dämonen“) her gelesen werden, als von Lenin und Stalin und der Sowjet-Zeit – nicht zuletzt, weil die Romanereignisse weitgehend auf wahren Begebenheiten basieren, die später eine Art Geschichtsklitterung erfuhren.

Der Roman war in Russland tabu

Die Bolschewiki sahen es nach dem vollbrachten Umsturz nicht mehr gerne, wenn über revolutionäre Gruppen im Plural oder gar als miteinander konkurrierend geschrieben wurde. Daher war der Roman, der quasi die Vorgeschichte zum Debüt nachreicht, in Russland tabu. Ossorgin war seit 1904 Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, in seiner Wohnung kam es zu konspirativen Treffen und er stand im Kontakt zu gesuchten Terroristen. Als historisches Vorbild für die Natascha des Romans darf seine Parteigenossin Natalja Sergejewna Klimowa (1885–1918) gelten. Ursula Keller, die auch schon „Eine Straße in Moskau“ überzeugend übersetzt hat, spricht im Nachwort davon, dass mit den „Zeugen der Geschichte“ nicht nur ein literarisches Werk vorliege, sondern auch eine wichtige historische Quelle für eine wenig erforschte Epoche. Die Rede ist von der Zeit der Russischen Revolution von 1905, an der Ossorgin aktiv beteiligt war und die Lenin einmal als „Generalprobe der Oktoberrevolution“ bezeichnete. Natascha, die inzwischen die „blonde Bestie“ Olen, den Anführer einer anarchistischen Terrorgruppe, kennengelernt hat, schickt Selbstmordattentäter in den Tod und ist an einem spektakulären Bombenanschlag auf den Ministerpräsidenten beteiligt. Alles im Namen der Freiheit.

Liest sich wie eine Mischung aus Schiller und Dostojewski

Natascha wird verhaftet. Anders als Olen entgeht sie dem Todesurteil, flieht aus dem Gefängnis über Sibirien, die Mongolei und China nach Europa, wo sie schließlich in Paris strandet und ihr Leben und ihre Ideale hinterfragt und sich auch an ihre Kindheitstage erinnert. Ossorgin vereint in seinen mal gewaltigen und mitreißenden, dann wieder ganz zarten, kontemplativen Beschreibungen eine Verbundenheit mit der Natur, in der noch der kleinste Teil dem Ganzen nicht fehlen darf, mit einer Zerrissenheit und Entfremdung, die ein ewig idealistisches Streben nach dem Vergangenen oder verloren Geglaubten nach sich zieht.

Beim Lesen hat man immer mal wieder den Eindruck, als schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Eines, das an den naturverbundenen, „naiven“ Goethe erinnert, und eines, das einem den sentimentalischen Geistesmenschen Schiller ins Gedächtnis ruft. Thomas Mann hatte Goethe und Tolstoi (in seinem gleichnamigen, 1921 erstmals als Vortrag gehaltenen Essay) einmal Schiller und Dostojewski gegenübergestellt – als Antithese von Natur und Geist. Tatsächlich liest sich Michail Ossorgin wie eine sehr poetische Mischung aus beidem.´

Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit. Aus dem Russischen von Ursula Keller. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. 552 Seiten, 42 €.

Tobias Schwartz

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