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Polit-Poet. Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen.

© imago/epd

Navid Kermani erhält Friedenspreis 2015: Die Zeit und der Zeuge

Schriftsteller, Essayist, Islamwissenschaftler: Navid Kermani ist mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 geehrt worden.

Es war eine kluge, aufrüttelnde, denkwürdige Rede, die Navid Kermani 2014 im Bundestag hielt, zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes. Eine Rede, in der er durchaus ein Loblied auf das Deutschland von heute sang („es darf stolz darauf sein, dass es so anziehend geworden ist“) – und in der er doch immer wieder auf Fehlentwicklungen und das Leid der Anderen hinwies. Darauf, dass es für dieses Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein sollte, Flüchtlingen zu helfen, Schutz anzubieten und nicht am Asylrecht herumzuschrauben wie 1993, als aus dem Grundrecht für politisch Verfolgte der sogenannte Asylkompromiss mit vielerlei Einschränkungen wurde. „Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem hässlichen herzlosen Fleck gereinigt sein“, wünschte sich Kermani.

Man könnte sagen, der 1967 in Siegen als Kind iranischer Eltern geborene Kermani habe sich allein mit dieser Rede dafür empfohlen, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet zu werden. Zumal Kermani der Idealtypus einer gelungenen Integration ist: Er ist Moslem genauso wie Fan des 1. FC Köln, Vorzeigebürger eines Landes, das sich langsam tatsächlich als Einwanderungsgesellschaft versteht. Man würde ihm und vor allem seinem Schaffen damit aber kaum gerecht. Denn spätestens seit seiner 1999 fertiggestellten Dissertationsarbeit „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“ beteiligt sich Kermani intensiv an gesellschaftlichen und theologischen Diskursen. Und er fühlt sich seit Langem, so begründet der Stiftungsrat des Friedenspreises seine gelungene Wahl, genauso „der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet“, wie er sich für eine offene europäische, Flüchtlingen Schutz bietende Gesellschaft einsetzt. Wobei es Kermani stets um Aussöhnung geht, um ein tieferes Verständnis zwischen den Kulturen und Religionen.

Als "beseelter Europäer" hat Kermani das Massensterben im Mittelmeer angeprangert

Als „deutscher Schriftsteller und bekennender, ja beseelter Europäer“ hat er kürzlich in der „FAZ“ das Massensterben im Mittelmeer angeprangert. Deutschland und Europa machte er mitverantwortlich dafür, nicht nur im Hinblick auf Afrika, sondern gerade auch auf den Nahen Osten und die katastrophalen Umtriebe des sogenannten Islamischen Staats. „Am verheerendsten aber, moralisch wie strategisch, ist das Bündnis, das der Westen und damit auch Europa mit dem Hauptsponsor des militanten Islamismus eingegangen ist, mit Saudi-Arabien.“

Dabei ist Navid Kermani als Islamwissenschaftler niemand, der allein vom Schreibtisch aus urteilt. Immer wieder macht er sich vom heimischen Köln auf zu den Krisenherden der Welt. 2005 besuchte er die spanische Enklave Ceuta an der marokkanischen Küste, Sehnsuchtsort vieler afrikanischer Flüchtlinge, ebenso die palästinensischen Gebiete. 2006 reiste er nach Afghanistan, 2009 in den Iran, wo er schon 1994 in Isfahan ein internationales Kulturzentrum gegründet hatte (das 1997 wieder schließen musste). Zuletzt berichtete er für den „Spiegel“ aus dem Irak. Hier hielt er sich unter anderem in Flüchtlingslagern in den kurdischen Gebieten und an der Kampffront mit dem Islamischen Staat auf. Oft hat er auf diesen „Reisen in eine beunruhigte Welt“ (so der Titel eines Reportagebuchs) das Gefühl, „eine Schaltstelle“ zu sein, er versuche, „mal für den einen, mal für den anderen Standpunkt Verständnis zu wecken“. Wieder zu Hause in Deutschland, ist Kermani sich dann bewusster denn je, dass Identität „per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes“ ist, „wie jede Art von Definition. Es ist eine Festlegung dessen, was in der Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist“.

Kermanis Opus magnum: der Roman "Dein Name"

Was bei aller Diskursfreudigkeit, bei all den Reportagen und aktuellen Essays von Kermani schnell in Vergessenheit gerät: Er ist auch Schriftsteller im literarischen Sinne, ein Erzähler. 2002 debütierte er mit einem Büchlein, das den wuchtigen Titel „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ trägt. Darin übt sich Kermani natürlich in intensiven Neil-Young-Songstudien, unter anderem vor dem Hintergrund der Drei-Monats-Koliken seiner damals gerade geborenen Tochter (die sich durch Youngs Gitarrenriffs etwas beruhigen ließen). Er erzählt aber auch von großen Brüdern, ersten Freundinnen und nächtlichen Autofahrten. Es folgten weitere kleinere Bücher wie „Vierzig Leben“ und „Du sollst“ und schließlich 2011 ein Opus magnum mit dem Titel „Dein Name“, das unter anderem für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.

„Dein Name“ ist ein Roman ohne Kapiteleinteilungen, ohne Zwischenüberschriften, fast ohne Absätze, über 1200 Seiten stark; ein ambitionierter, manchmal ausufernder, irritierend formloser Roman über einen Schriftsteller, der unentwegt und überall schreibt, eine Mischung aus Tagebuch, Geschichten (unter anderem denen seines Großvaters), Literaturliteratur und Autofiktion.

Manchmal wirkt Navid Kermani hier arg getrieben, sein Alter Ego, sein Schreiber-Ich ist verzagt, beklagt sich über „fehlende Anerkennung, tiefgreifende Selbstzweifel, finanzielle Engpässe, Lohnarbeiten“. Womit Kermani allerdings das primär Fiktive von „Dein Name“ einmal mehr betont: Über fehlende Anerkennung auch in der Literaturwelt kann sich Kermani weiß Gott nicht beklagen. Zahlreiche große Auszeichnungen hat er bekommen, den Hannah-Arendt-Preis, den Kleist-Preis oder den Joseph-Breitbach-Preis im vergangenen Jahr.

„Literatur, wie ich sie verstehe“, hat der 47-Jährige einmal gesagt, „mag sich extrem gewalttätiger oder auch besonders kurioser, absurd anmutender, abseitiger, närrischer, obsessiver oder schlicht unglaublicher Vorgänge annehmen.“ Zu diesen Vorgängen gehört natürlich die Liebe, über die er sich in seinem jüngsten Roman „Große Liebe“ ausgelassen hat, inklusive der Befragung islamischer Mystiker des 12. und 13. Jahrhunderts.

Ob die Liebe Thema sein wird, wenn er am 18. Oktober bei der Verleihung in der Frankfurter Paulskirche seine Dankesrede hält? Vermutlich nicht. Dafür sind die realen Welt-Vorgänge zu gewalttätig, zu turbulent, zu drängend, gerade für Navid Kermani.

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